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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Ruf in Kriegssachen. Allein man darf doch auf die letzten sechszig Jahre hin¬
weisen. Wie oft haben in dieser Zeit neapolitanische und sicilische Städte wil¬
den Todesmuth gezeigt im Aufstand gegen die Besatzung, wahrhaftes Helden¬
feuer gegen Sturm und Belagerung! Und haben sich denn im russischen Feldzug
Murats Neapolitaner nicht Achtung verschafft? Allerdings gewöhnt sich der
Neapolitaner schwer daran, in geschlossener Masse gehorchend zu fechten. Auch
wird ihm der erste Anprall fast jedesmal gefährlich, weil seine Phantasie sich
plötzlich mit dunkeln Schreckbildern anfüllt. Diese Südländer werden daher
den Ruhm deutscher oder französischer Soldaten schwerlich erreichen, immerhin
aber können sie eine achtbare Truppe bilden. Es hängt nur davon ab, daß
sie in gute Zucht und Schule kommen, und diese haben sie jetzt. Die Piemon-
tesen sind rastlos und schonungslos bei der Arbeit, Rekruten heranzuziehen und
einzuüben. Die Bersaglicri sind die Perle des italienischen Heeres, an Schnell¬
kraft unübertrefflich: unter ihnen dienen viele Neapolitaner. Sie machen an¬
fangs ihren Zuchtmeistern harte Mühe, dann aber zeichnen sie sich aus in jeder
Hinsicht. Ueberhaupt was das Heerwesen betrifft, haben die Piemontesen die
ungeheure Aufgabe, die sie auf sich genommen, völlig begriffen und zum Theil
auch erfüllt: sie bilden ein großes und einheitliches Nationalheer Italiens.

Wo der Erdboden tief aufgerissen ist, oder Gebirge steil abstürzt, da sieht
man häufig, wie die Erd- und Felsarten übereinander lagern, immer eine dün¬
nere oder mächtigere Schicht über der andern. So erschien mir auch die Volks-
gewöhnung in Neapel und Sicilien, als läge darin schichtweise Eigenthümliches
über einander, jede Schicht gleichsam als Nücklaß einer der historischen Epochen,
die über diese Länder dahin zogen. Je weiter nach Süden hinab, desto schärfer
zeichnen sich die einzelnen Bestandtheile.

Das leichtlebige und gewandte Wesen, das Blitzschnelle der Auffassung, die
Lust am Reden, der immer rege Handelsgeist, der Neid und Haß der Städte
unter einander -- erinnert dergleichen nicht an die alten Griechen?

Die Römer hinterließen diesen Ländern die traurige Scheidung d.es Volks
in müßige Landherren, denen die wuchernden Pachtunternehmer zur Seite stehen,
und arme Arbeiter, die gleich den römischen Sklaven von ihrem sauren Fleiße
nur das nackte Leben fristen.

Dann kamen die Byzantiner. Nicht wenig von ihren orientalisch gefärbten
Sitten wurzelte ein und wurde noch verstärkt durch die nicht minder lange
sarazenische Einwirkung. Wie sehr erinnert an den Orient die lebhafte Ge¬
berdensprache, der Hang zur Posse und Aufschneiderei, die vielfache Verwilderung
des sittlichen Bewußtseins, Neigung zu Lüge und Betrug, Bestechlichkeit der
Beamten, Kinderaussetzung in Sicilien! Schmutz, Neid, Mißtrauen, Raublust
sind im Orient recht einheimisch: manches davon findet sich auch in Unteritalien,
besonders in Sicilien, und ist nicht auch ein echt orientalischer Zug jener klein-


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Ruf in Kriegssachen. Allein man darf doch auf die letzten sechszig Jahre hin¬
weisen. Wie oft haben in dieser Zeit neapolitanische und sicilische Städte wil¬
den Todesmuth gezeigt im Aufstand gegen die Besatzung, wahrhaftes Helden¬
feuer gegen Sturm und Belagerung! Und haben sich denn im russischen Feldzug
Murats Neapolitaner nicht Achtung verschafft? Allerdings gewöhnt sich der
Neapolitaner schwer daran, in geschlossener Masse gehorchend zu fechten. Auch
wird ihm der erste Anprall fast jedesmal gefährlich, weil seine Phantasie sich
plötzlich mit dunkeln Schreckbildern anfüllt. Diese Südländer werden daher
den Ruhm deutscher oder französischer Soldaten schwerlich erreichen, immerhin
aber können sie eine achtbare Truppe bilden. Es hängt nur davon ab, daß
sie in gute Zucht und Schule kommen, und diese haben sie jetzt. Die Piemon-
tesen sind rastlos und schonungslos bei der Arbeit, Rekruten heranzuziehen und
einzuüben. Die Bersaglicri sind die Perle des italienischen Heeres, an Schnell¬
kraft unübertrefflich: unter ihnen dienen viele Neapolitaner. Sie machen an¬
fangs ihren Zuchtmeistern harte Mühe, dann aber zeichnen sie sich aus in jeder
Hinsicht. Ueberhaupt was das Heerwesen betrifft, haben die Piemontesen die
ungeheure Aufgabe, die sie auf sich genommen, völlig begriffen und zum Theil
auch erfüllt: sie bilden ein großes und einheitliches Nationalheer Italiens.

Wo der Erdboden tief aufgerissen ist, oder Gebirge steil abstürzt, da sieht
man häufig, wie die Erd- und Felsarten übereinander lagern, immer eine dün¬
nere oder mächtigere Schicht über der andern. So erschien mir auch die Volks-
gewöhnung in Neapel und Sicilien, als läge darin schichtweise Eigenthümliches
über einander, jede Schicht gleichsam als Nücklaß einer der historischen Epochen,
die über diese Länder dahin zogen. Je weiter nach Süden hinab, desto schärfer
zeichnen sich die einzelnen Bestandtheile.

Das leichtlebige und gewandte Wesen, das Blitzschnelle der Auffassung, die
Lust am Reden, der immer rege Handelsgeist, der Neid und Haß der Städte
unter einander — erinnert dergleichen nicht an die alten Griechen?

Die Römer hinterließen diesen Ländern die traurige Scheidung d.es Volks
in müßige Landherren, denen die wuchernden Pachtunternehmer zur Seite stehen,
und arme Arbeiter, die gleich den römischen Sklaven von ihrem sauren Fleiße
nur das nackte Leben fristen.

Dann kamen die Byzantiner. Nicht wenig von ihren orientalisch gefärbten
Sitten wurzelte ein und wurde noch verstärkt durch die nicht minder lange
sarazenische Einwirkung. Wie sehr erinnert an den Orient die lebhafte Ge¬
berdensprache, der Hang zur Posse und Aufschneiderei, die vielfache Verwilderung
des sittlichen Bewußtseins, Neigung zu Lüge und Betrug, Bestechlichkeit der
Beamten, Kinderaussetzung in Sicilien! Schmutz, Neid, Mißtrauen, Raublust
sind im Orient recht einheimisch: manches davon findet sich auch in Unteritalien,
besonders in Sicilien, und ist nicht auch ein echt orientalischer Zug jener klein-


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[0355] Ruf in Kriegssachen. Allein man darf doch auf die letzten sechszig Jahre hin¬ weisen. Wie oft haben in dieser Zeit neapolitanische und sicilische Städte wil¬ den Todesmuth gezeigt im Aufstand gegen die Besatzung, wahrhaftes Helden¬ feuer gegen Sturm und Belagerung! Und haben sich denn im russischen Feldzug Murats Neapolitaner nicht Achtung verschafft? Allerdings gewöhnt sich der Neapolitaner schwer daran, in geschlossener Masse gehorchend zu fechten. Auch wird ihm der erste Anprall fast jedesmal gefährlich, weil seine Phantasie sich plötzlich mit dunkeln Schreckbildern anfüllt. Diese Südländer werden daher den Ruhm deutscher oder französischer Soldaten schwerlich erreichen, immerhin aber können sie eine achtbare Truppe bilden. Es hängt nur davon ab, daß sie in gute Zucht und Schule kommen, und diese haben sie jetzt. Die Piemon- tesen sind rastlos und schonungslos bei der Arbeit, Rekruten heranzuziehen und einzuüben. Die Bersaglicri sind die Perle des italienischen Heeres, an Schnell¬ kraft unübertrefflich: unter ihnen dienen viele Neapolitaner. Sie machen an¬ fangs ihren Zuchtmeistern harte Mühe, dann aber zeichnen sie sich aus in jeder Hinsicht. Ueberhaupt was das Heerwesen betrifft, haben die Piemontesen die ungeheure Aufgabe, die sie auf sich genommen, völlig begriffen und zum Theil auch erfüllt: sie bilden ein großes und einheitliches Nationalheer Italiens. Wo der Erdboden tief aufgerissen ist, oder Gebirge steil abstürzt, da sieht man häufig, wie die Erd- und Felsarten übereinander lagern, immer eine dün¬ nere oder mächtigere Schicht über der andern. So erschien mir auch die Volks- gewöhnung in Neapel und Sicilien, als läge darin schichtweise Eigenthümliches über einander, jede Schicht gleichsam als Nücklaß einer der historischen Epochen, die über diese Länder dahin zogen. Je weiter nach Süden hinab, desto schärfer zeichnen sich die einzelnen Bestandtheile. Das leichtlebige und gewandte Wesen, das Blitzschnelle der Auffassung, die Lust am Reden, der immer rege Handelsgeist, der Neid und Haß der Städte unter einander — erinnert dergleichen nicht an die alten Griechen? Die Römer hinterließen diesen Ländern die traurige Scheidung d.es Volks in müßige Landherren, denen die wuchernden Pachtunternehmer zur Seite stehen, und arme Arbeiter, die gleich den römischen Sklaven von ihrem sauren Fleiße nur das nackte Leben fristen. Dann kamen die Byzantiner. Nicht wenig von ihren orientalisch gefärbten Sitten wurzelte ein und wurde noch verstärkt durch die nicht minder lange sarazenische Einwirkung. Wie sehr erinnert an den Orient die lebhafte Ge¬ berdensprache, der Hang zur Posse und Aufschneiderei, die vielfache Verwilderung des sittlichen Bewußtseins, Neigung zu Lüge und Betrug, Bestechlichkeit der Beamten, Kinderaussetzung in Sicilien! Schmutz, Neid, Mißtrauen, Raublust sind im Orient recht einheimisch: manches davon findet sich auch in Unteritalien, besonders in Sicilien, und ist nicht auch ein echt orientalischer Zug jener klein- 44*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/355>, abgerufen am 28.09.2024.