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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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ist falsch. Obwohl man jetzt nicht leicht anderswo als in der Kirche Friesen
singen hörr, sind sie doch früher, namentlich auf Hochzeiten, sehr lustig ge¬
wesen bei Tanz und allerlei Liedern. Aber wie die Sage und der alte Volks¬
glaube im Ausstelben ist, so auch das Volkslied. Nur einige Neste haben sich,
besonders auf Föhr, erhalten, z. B. das Lied "Trintjc Drügsces" und "Bai
Retter", letzteres eine wahrscheinlich sehr alte Ballade mit wilder 'Melodie. Im
Allgemeinen ist der Charakter des Volkes in den Marschen derselbe wie im
westlichen Holstein. Das phlegmatische Temperament wiegt vor. Auf den
Inseln begegnet man häufiger dem melancholis^ben, was sich vermuthlich aus
den vielen Verluste" von Menschenleben erklären wird, welche diese Schiffer¬
bevölkerung von jeher durch die See erlitt. Oft zeichneten sich Friesen als
Mathematiker aus, wie> z. B. der Schullehrer Arfst Hansen zu Oevenum auf
Föhr, der Navigationslehrer Rörd Imsen zu Toftum und vor allen der Bauer
Hans Momsen zu Fahretoft. Wie die Ditmarscher, soweit sie einige Bildung
haben, stolz auf ihre Geschichte sind, wie die Angler leicht das Bewußtsein ver¬
rathen, etwas Besseres zu sein als ihre Nachbarn in der Haidegegend, so lebt
auch unter den Friesen, und zwar sowohl auf dem Festland wie auf den Inseln,
hier vorzüglich auf Sylt, viel Sinn für die alte Geschichte des Stammes und
ein starkes Gefühl für dessen Vortrefflichkeit. In mehr als einem Hause fanden
wir Chroniken des Friesenlandes und die Schriften Doctor Elements, Schul-
lehrer Hansens in Kennen u. a. Auch Bauern wußten sich etwas damit, Nach¬
kommen der "ela frea Fresena", d. i. der edeln freien Friesen zu sein, deren
Wahlspruch "Liewar tut as Stow" ihnen wohlbekannt war. In den Stuben
trafen wir hin und wieder unter Glas und Rahmen ein Phantasiewappen Nord¬
frieslands, welches wahrscheinlich ein heimischer.Künstler aus Sage und Historie
componirt hatte, und dem wir auch auf den Kutschenschlägcn der Körwagen
unsrer Wirthe bisweilen begegneten. Cs zeigte einen halben Adler und daneben
in einem obern Felde eine Krone, in einem untern einen Grütztopf mit einem
Löffel. Jener Adler sollte, so sagte man uns, Deutschland bedeuten, die Krone
an die Schlacht auf dem Königskamp erinnern, wo König Adel sie zugleich mit
dem Leben an die Friesen verloren, der Grütztvpf aber war ein Monument
einer andern Schlacht, in welcher friesische Frauen das dänische Heer mit Wurfen
Von heißem Grützbrci in -die Flucht geschlagen hätten. Im Christian-Albrechts-
Kvog lernten wir in einem Stubenmaler Ingwer Dcthiessen einen eifrigen
specifischen Friesen kennen, welcher der festen Ueberzeugung lebte, daß "de
Frasche" eigentlich den Normalmenschen darstellten, und der dies wiederholt so¬
gar in gebundener Rede ausgesprochen hatte. Ein patriotisches Gedicht, welches
uns von ihm vorliegt, und welches mit den Worten beginnt:


"O Frasche, we doch flott aw dat
Wad jam en Urwraal wicm"

ist falsch. Obwohl man jetzt nicht leicht anderswo als in der Kirche Friesen
singen hörr, sind sie doch früher, namentlich auf Hochzeiten, sehr lustig ge¬
wesen bei Tanz und allerlei Liedern. Aber wie die Sage und der alte Volks¬
glaube im Ausstelben ist, so auch das Volkslied. Nur einige Neste haben sich,
besonders auf Föhr, erhalten, z. B. das Lied „Trintjc Drügsces" und „Bai
Retter", letzteres eine wahrscheinlich sehr alte Ballade mit wilder 'Melodie. Im
Allgemeinen ist der Charakter des Volkes in den Marschen derselbe wie im
westlichen Holstein. Das phlegmatische Temperament wiegt vor. Auf den
Inseln begegnet man häufiger dem melancholis^ben, was sich vermuthlich aus
den vielen Verluste» von Menschenleben erklären wird, welche diese Schiffer¬
bevölkerung von jeher durch die See erlitt. Oft zeichneten sich Friesen als
Mathematiker aus, wie> z. B. der Schullehrer Arfst Hansen zu Oevenum auf
Föhr, der Navigationslehrer Rörd Imsen zu Toftum und vor allen der Bauer
Hans Momsen zu Fahretoft. Wie die Ditmarscher, soweit sie einige Bildung
haben, stolz auf ihre Geschichte sind, wie die Angler leicht das Bewußtsein ver¬
rathen, etwas Besseres zu sein als ihre Nachbarn in der Haidegegend, so lebt
auch unter den Friesen, und zwar sowohl auf dem Festland wie auf den Inseln,
hier vorzüglich auf Sylt, viel Sinn für die alte Geschichte des Stammes und
ein starkes Gefühl für dessen Vortrefflichkeit. In mehr als einem Hause fanden
wir Chroniken des Friesenlandes und die Schriften Doctor Elements, Schul-
lehrer Hansens in Kennen u. a. Auch Bauern wußten sich etwas damit, Nach¬
kommen der „ela frea Fresena", d. i. der edeln freien Friesen zu sein, deren
Wahlspruch „Liewar tut as Stow" ihnen wohlbekannt war. In den Stuben
trafen wir hin und wieder unter Glas und Rahmen ein Phantasiewappen Nord¬
frieslands, welches wahrscheinlich ein heimischer.Künstler aus Sage und Historie
componirt hatte, und dem wir auch auf den Kutschenschlägcn der Körwagen
unsrer Wirthe bisweilen begegneten. Cs zeigte einen halben Adler und daneben
in einem obern Felde eine Krone, in einem untern einen Grütztopf mit einem
Löffel. Jener Adler sollte, so sagte man uns, Deutschland bedeuten, die Krone
an die Schlacht auf dem Königskamp erinnern, wo König Adel sie zugleich mit
dem Leben an die Friesen verloren, der Grütztvpf aber war ein Monument
einer andern Schlacht, in welcher friesische Frauen das dänische Heer mit Wurfen
Von heißem Grützbrci in -die Flucht geschlagen hätten. Im Christian-Albrechts-
Kvog lernten wir in einem Stubenmaler Ingwer Dcthiessen einen eifrigen
specifischen Friesen kennen, welcher der festen Ueberzeugung lebte, daß „de
Frasche" eigentlich den Normalmenschen darstellten, und der dies wiederholt so¬
gar in gebundener Rede ausgesprochen hatte. Ein patriotisches Gedicht, welches
uns von ihm vorliegt, und welches mit den Worten beginnt:


„O Frasche, we doch flott aw dat
Wad jam en Urwraal wicm"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/31>, abgerufen am 28.09.2024.