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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Wieder eine neue Einwirfung übte England durch Thomsons "Jahreszeiten",
welche 1745 von Blockes übersetzt wurden, auf die deusche Literatur. Durch
sie kam die poetische Malerei bei uns auf, welche besonders in Haller, Geßner
und in Kleist, dem Dichter des Frühlings, ihre Vertreter fand, und der auch
Lessing und Wieland am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn huldigten.
Außer diesen Dichtern ersten und zweiten Ranges traten aber zahlreiche unter¬
geordnete Talente in Thomsons Fußtapfen, und die Zeit von 1750 bis 1780
schüttete vor dem Publicum ein wahres Füllhorn von Frühlingsempfindungen,
moralischen Herbstbetrachtungen, ländlichen Kleinmalereien, poetischen Jahres¬
und Tageszeiten, Schäfergedichten und Lobliedern auf das Landleben aus.

Von entgegengesetztem Charakter, aber nicht weniger eingreifender und nach¬
haltiger Wirkung war der Ossianismus, der nach 1764, wo die erste Ueber¬
setzung des "Fingal" (zu Hamburg) erschien, mit seinen riesenhaften Nebel-
gestalten nicht nur unsere großen und kleinen Poeten bezauberte, sondern auch
der Anstoß zu literarhistorischen und ästhetisch-kritischen Untersuchungen über Ossian
selbst, über die Barden und die alte Volkspoesie gab. Namentlich wurde
Blairs Abhandlung über Ossians Dichtungen für Herders Studien fruchtbar.
Wie hoch Goethe Ossian stellte, zeigt der Werther, welche thörichte Ueber¬
schätzung desselben sich selbst verständiger Männer bemächtigt hatte, sehen wir an
Voß, der 1775 schrieb: "Der Schotte Ossian ist ein größerer Dichter als der
Jonier Homer," wie stark er einwirkte, beweist die Barden- und Skaldenpoesie
jener Tage, die indeß das Gute hatte, daß sie dazu beitrug, unser nationales
Bewußtsein zu wecken. In dieser Wirkung wurde sie von einem zweiten englischen
Factor unterstützt, nämlich von der englischen Balladendichtung, auf die schon
Hagedorn 1747 hingewiesen, und die, als 1765 Percys "Koliques" erschienen,
den zündenden Funken in den göttinger Dichterbund warf. Volksdichtung
ward nun die Losung, die von Percy gehobenen Schätze wurden studirt, über¬
setzt und nachgeahmt, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet,
daß wir ohne Percy keinen Bürger gehabt hätten, und daß ohne jenen auch
Herder nicht das gewesen wäre, was er für unsre Literatur war.

Die folgenschwerste Einwirkung aber von allen, welche die englische Literatur
auf die deutsche geübt hat, fand infolge des Sieges statt, welchen Lessing für die eng¬
lische dramatische Dichtung über das französische Theater erfocht, infolge des Triumphs
Shakespeares über das Triumvirat Corneille Racine und Voltaire. Durch seine
Miß Sara Sampson bürgerte Lessing 1755 das auf englischem Boden erwachsene
bürgerliche Trauerspiel in unserer Literatur ein, den Stoff dazu hatte ihm
Richardsons "Clarissa", die Form Lillos "Kaufmann von London" gegeben.
Seinem Beispiele folgten bald eine große Anzahl Dichter und Uebersetzer, auf
welche die Freiheit der englischen Bühne, nachdem sie die französischen Fesseln
abgestreift hatten, einen mächtigen Reiz übte. In der zweiten Hälfte des vorigen


Wieder eine neue Einwirfung übte England durch Thomsons „Jahreszeiten",
welche 1745 von Blockes übersetzt wurden, auf die deusche Literatur. Durch
sie kam die poetische Malerei bei uns auf, welche besonders in Haller, Geßner
und in Kleist, dem Dichter des Frühlings, ihre Vertreter fand, und der auch
Lessing und Wieland am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn huldigten.
Außer diesen Dichtern ersten und zweiten Ranges traten aber zahlreiche unter¬
geordnete Talente in Thomsons Fußtapfen, und die Zeit von 1750 bis 1780
schüttete vor dem Publicum ein wahres Füllhorn von Frühlingsempfindungen,
moralischen Herbstbetrachtungen, ländlichen Kleinmalereien, poetischen Jahres¬
und Tageszeiten, Schäfergedichten und Lobliedern auf das Landleben aus.

Von entgegengesetztem Charakter, aber nicht weniger eingreifender und nach¬
haltiger Wirkung war der Ossianismus, der nach 1764, wo die erste Ueber¬
setzung des „Fingal" (zu Hamburg) erschien, mit seinen riesenhaften Nebel-
gestalten nicht nur unsere großen und kleinen Poeten bezauberte, sondern auch
der Anstoß zu literarhistorischen und ästhetisch-kritischen Untersuchungen über Ossian
selbst, über die Barden und die alte Volkspoesie gab. Namentlich wurde
Blairs Abhandlung über Ossians Dichtungen für Herders Studien fruchtbar.
Wie hoch Goethe Ossian stellte, zeigt der Werther, welche thörichte Ueber¬
schätzung desselben sich selbst verständiger Männer bemächtigt hatte, sehen wir an
Voß, der 1775 schrieb: „Der Schotte Ossian ist ein größerer Dichter als der
Jonier Homer," wie stark er einwirkte, beweist die Barden- und Skaldenpoesie
jener Tage, die indeß das Gute hatte, daß sie dazu beitrug, unser nationales
Bewußtsein zu wecken. In dieser Wirkung wurde sie von einem zweiten englischen
Factor unterstützt, nämlich von der englischen Balladendichtung, auf die schon
Hagedorn 1747 hingewiesen, und die, als 1765 Percys „Koliques" erschienen,
den zündenden Funken in den göttinger Dichterbund warf. Volksdichtung
ward nun die Losung, die von Percy gehobenen Schätze wurden studirt, über¬
setzt und nachgeahmt, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet,
daß wir ohne Percy keinen Bürger gehabt hätten, und daß ohne jenen auch
Herder nicht das gewesen wäre, was er für unsre Literatur war.

Die folgenschwerste Einwirkung aber von allen, welche die englische Literatur
auf die deutsche geübt hat, fand infolge des Sieges statt, welchen Lessing für die eng¬
lische dramatische Dichtung über das französische Theater erfocht, infolge des Triumphs
Shakespeares über das Triumvirat Corneille Racine und Voltaire. Durch seine
Miß Sara Sampson bürgerte Lessing 1755 das auf englischem Boden erwachsene
bürgerliche Trauerspiel in unserer Literatur ein, den Stoff dazu hatte ihm
Richardsons „Clarissa", die Form Lillos „Kaufmann von London" gegeben.
Seinem Beispiele folgten bald eine große Anzahl Dichter und Uebersetzer, auf
welche die Freiheit der englischen Bühne, nachdem sie die französischen Fesseln
abgestreift hatten, einen mächtigen Reiz übte. In der zweiten Hälfte des vorigen


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[0254] Wieder eine neue Einwirfung übte England durch Thomsons „Jahreszeiten", welche 1745 von Blockes übersetzt wurden, auf die deusche Literatur. Durch sie kam die poetische Malerei bei uns auf, welche besonders in Haller, Geßner und in Kleist, dem Dichter des Frühlings, ihre Vertreter fand, und der auch Lessing und Wieland am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn huldigten. Außer diesen Dichtern ersten und zweiten Ranges traten aber zahlreiche unter¬ geordnete Talente in Thomsons Fußtapfen, und die Zeit von 1750 bis 1780 schüttete vor dem Publicum ein wahres Füllhorn von Frühlingsempfindungen, moralischen Herbstbetrachtungen, ländlichen Kleinmalereien, poetischen Jahres¬ und Tageszeiten, Schäfergedichten und Lobliedern auf das Landleben aus. Von entgegengesetztem Charakter, aber nicht weniger eingreifender und nach¬ haltiger Wirkung war der Ossianismus, der nach 1764, wo die erste Ueber¬ setzung des „Fingal" (zu Hamburg) erschien, mit seinen riesenhaften Nebel- gestalten nicht nur unsere großen und kleinen Poeten bezauberte, sondern auch der Anstoß zu literarhistorischen und ästhetisch-kritischen Untersuchungen über Ossian selbst, über die Barden und die alte Volkspoesie gab. Namentlich wurde Blairs Abhandlung über Ossians Dichtungen für Herders Studien fruchtbar. Wie hoch Goethe Ossian stellte, zeigt der Werther, welche thörichte Ueber¬ schätzung desselben sich selbst verständiger Männer bemächtigt hatte, sehen wir an Voß, der 1775 schrieb: „Der Schotte Ossian ist ein größerer Dichter als der Jonier Homer," wie stark er einwirkte, beweist die Barden- und Skaldenpoesie jener Tage, die indeß das Gute hatte, daß sie dazu beitrug, unser nationales Bewußtsein zu wecken. In dieser Wirkung wurde sie von einem zweiten englischen Factor unterstützt, nämlich von der englischen Balladendichtung, auf die schon Hagedorn 1747 hingewiesen, und die, als 1765 Percys „Koliques" erschienen, den zündenden Funken in den göttinger Dichterbund warf. Volksdichtung ward nun die Losung, die von Percy gehobenen Schätze wurden studirt, über¬ setzt und nachgeahmt, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß wir ohne Percy keinen Bürger gehabt hätten, und daß ohne jenen auch Herder nicht das gewesen wäre, was er für unsre Literatur war. Die folgenschwerste Einwirkung aber von allen, welche die englische Literatur auf die deutsche geübt hat, fand infolge des Sieges statt, welchen Lessing für die eng¬ lische dramatische Dichtung über das französische Theater erfocht, infolge des Triumphs Shakespeares über das Triumvirat Corneille Racine und Voltaire. Durch seine Miß Sara Sampson bürgerte Lessing 1755 das auf englischem Boden erwachsene bürgerliche Trauerspiel in unserer Literatur ein, den Stoff dazu hatte ihm Richardsons „Clarissa", die Form Lillos „Kaufmann von London" gegeben. Seinem Beispiele folgten bald eine große Anzahl Dichter und Uebersetzer, auf welche die Freiheit der englischen Bühne, nachdem sie die französischen Fesseln abgestreift hatten, einen mächtigen Reiz übte. In der zweiten Hälfte des vorigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/254>, abgerufen am 28.09.2024.