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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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deutschen Provinzen bereits vorgedrungen war; und eben daher steht auf den
fliegenden Blättern des siebzehnten Jahrhunderts, die das Tellenlied zu Basel,
Bern und Zürich drucken, gewöhnlich vorgedruckt-. "Im Ton Wilhelmus von
Nassauwe zu singen." Seine Verbreitung und Beliebtheit hatte das Lied seiner
hübschen Weise zu danken. Seine Melodie ist eine so angenehme, schreibt
Joh. Mattheson im Mithridat (Hamburg 1749, S. 12--14), daß es nicht nur
schon vor mehr als anderthalbhundert Jahren auf allen Thürmen geblasen und
mit den Glockenspielen geläutet, aus allen Gassen gesungen und gesprungen
(getanzt) wurde, "sondern daß es noch bei dem heurigen Friedensseste, 13. Juni
1749, zu Maestricht und im Hag hat feierlich erklingen müßen." Es bleibt
nur unbestreitbar, daß nach dem Versmaße, der Strophensorm, der Sangweise,
theilweise sogar nach dem Ideengange und dem Wortlaute dieses Liedes Mudelen
das seinige nachgebildet hat. Trotz alledem behält Muheims Lied noch immer
seinen Werth, nichteinen poetischen, aber einen schweizergeschichtlichen; denn es
kann nachgewiesen werden, daß dasselbe mit den Erzählungen der Schweizer-
chroniken über die Teller-Episode wörtlich zusammenhängt und sich also wohl
auf ein anderes älteres Tellenlied gestützt haben muß. Das Vorhandensein
eines solchen im fünfzehnten Jahrhundert ergiebt sich aus der Chronik, die
Melchior Ruß zu Luzern am ersten Weinmonat 1482 beendigte. Dieser ist
bekanntlich der erste Schweizerchronist, der des Wilhelm Tell Erwähnung thut und
durch ihn den Landvogt auf der Platte am See, unmittelbar nach dem Sprunge
aus dem Schiff, erschießen läßt, nicht also in der Küßnachter hohlen Gasse.
Indem Ruß seine Geschichte über die Gewaltthätigkeiten der Vögte einleiten
will und dabei verfrüht schon des Schusses gedacht hat, den Tell nach dem
Apfel auf des Kindes Haupt zu richten gezwungen worden, fügt er bei: "als
jr das hernach, wie es jm ergieng, werdet hören jn einem liebt." Eben
dieses alte Lied nun ist verloren, statt seiner ist nur die muheimische Erneuung
übrig. Da aber deren Wortlaut in Angabe oder Beschreibung der Teilen-
geschichte gleichlautend ist mit den Angaben und der Ausdrucksweise aller älteren
Chronisten, wo diese über Teils Abenteuer berichten, so zeigt sich, daß Lieder
und Chroniken über Tell in einem Stil berichten, der bereits im fünfzehnten
Jahrhundert ein stationärer geworden war. Und eben dadurch, daß Muheims
Lied participirt an dieser traditionellen Berichterstattung, stimmt dasselbe auch
wortgetreu mit der Diction und Handlung zusammen, die allen älteren Teilen-
spielen eigen ist. Es besteht also zwischen dem schweizerischen Volksliede und
dem schweizerischen Volksschauspiele, insofern beide über Tell handeln, der von
uns gesuchte Zusammenhang, das nationale, bis auf das einzelne Wort des
Ausdruckes sich gleichbleibende EinVerständniß. Damit ist der Weg gesunden,
um auf das älteste Tellenschauspiel übergehen zu können.

Hier begegnet uns derselbe Mißstand; in seiner echten Gestalt ist uns das


Grenzboten III. 1864. 17

deutschen Provinzen bereits vorgedrungen war; und eben daher steht auf den
fliegenden Blättern des siebzehnten Jahrhunderts, die das Tellenlied zu Basel,
Bern und Zürich drucken, gewöhnlich vorgedruckt-. „Im Ton Wilhelmus von
Nassauwe zu singen." Seine Verbreitung und Beliebtheit hatte das Lied seiner
hübschen Weise zu danken. Seine Melodie ist eine so angenehme, schreibt
Joh. Mattheson im Mithridat (Hamburg 1749, S. 12—14), daß es nicht nur
schon vor mehr als anderthalbhundert Jahren auf allen Thürmen geblasen und
mit den Glockenspielen geläutet, aus allen Gassen gesungen und gesprungen
(getanzt) wurde, „sondern daß es noch bei dem heurigen Friedensseste, 13. Juni
1749, zu Maestricht und im Hag hat feierlich erklingen müßen." Es bleibt
nur unbestreitbar, daß nach dem Versmaße, der Strophensorm, der Sangweise,
theilweise sogar nach dem Ideengange und dem Wortlaute dieses Liedes Mudelen
das seinige nachgebildet hat. Trotz alledem behält Muheims Lied noch immer
seinen Werth, nichteinen poetischen, aber einen schweizergeschichtlichen; denn es
kann nachgewiesen werden, daß dasselbe mit den Erzählungen der Schweizer-
chroniken über die Teller-Episode wörtlich zusammenhängt und sich also wohl
auf ein anderes älteres Tellenlied gestützt haben muß. Das Vorhandensein
eines solchen im fünfzehnten Jahrhundert ergiebt sich aus der Chronik, die
Melchior Ruß zu Luzern am ersten Weinmonat 1482 beendigte. Dieser ist
bekanntlich der erste Schweizerchronist, der des Wilhelm Tell Erwähnung thut und
durch ihn den Landvogt auf der Platte am See, unmittelbar nach dem Sprunge
aus dem Schiff, erschießen läßt, nicht also in der Küßnachter hohlen Gasse.
Indem Ruß seine Geschichte über die Gewaltthätigkeiten der Vögte einleiten
will und dabei verfrüht schon des Schusses gedacht hat, den Tell nach dem
Apfel auf des Kindes Haupt zu richten gezwungen worden, fügt er bei: „als
jr das hernach, wie es jm ergieng, werdet hören jn einem liebt." Eben
dieses alte Lied nun ist verloren, statt seiner ist nur die muheimische Erneuung
übrig. Da aber deren Wortlaut in Angabe oder Beschreibung der Teilen-
geschichte gleichlautend ist mit den Angaben und der Ausdrucksweise aller älteren
Chronisten, wo diese über Teils Abenteuer berichten, so zeigt sich, daß Lieder
und Chroniken über Tell in einem Stil berichten, der bereits im fünfzehnten
Jahrhundert ein stationärer geworden war. Und eben dadurch, daß Muheims
Lied participirt an dieser traditionellen Berichterstattung, stimmt dasselbe auch
wortgetreu mit der Diction und Handlung zusammen, die allen älteren Teilen-
spielen eigen ist. Es besteht also zwischen dem schweizerischen Volksliede und
dem schweizerischen Volksschauspiele, insofern beide über Tell handeln, der von
uns gesuchte Zusammenhang, das nationale, bis auf das einzelne Wort des
Ausdruckes sich gleichbleibende EinVerständniß. Damit ist der Weg gesunden,
um auf das älteste Tellenschauspiel übergehen zu können.

Hier begegnet uns derselbe Mißstand; in seiner echten Gestalt ist uns das


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[0137] deutschen Provinzen bereits vorgedrungen war; und eben daher steht auf den fliegenden Blättern des siebzehnten Jahrhunderts, die das Tellenlied zu Basel, Bern und Zürich drucken, gewöhnlich vorgedruckt-. „Im Ton Wilhelmus von Nassauwe zu singen." Seine Verbreitung und Beliebtheit hatte das Lied seiner hübschen Weise zu danken. Seine Melodie ist eine so angenehme, schreibt Joh. Mattheson im Mithridat (Hamburg 1749, S. 12—14), daß es nicht nur schon vor mehr als anderthalbhundert Jahren auf allen Thürmen geblasen und mit den Glockenspielen geläutet, aus allen Gassen gesungen und gesprungen (getanzt) wurde, „sondern daß es noch bei dem heurigen Friedensseste, 13. Juni 1749, zu Maestricht und im Hag hat feierlich erklingen müßen." Es bleibt nur unbestreitbar, daß nach dem Versmaße, der Strophensorm, der Sangweise, theilweise sogar nach dem Ideengange und dem Wortlaute dieses Liedes Mudelen das seinige nachgebildet hat. Trotz alledem behält Muheims Lied noch immer seinen Werth, nichteinen poetischen, aber einen schweizergeschichtlichen; denn es kann nachgewiesen werden, daß dasselbe mit den Erzählungen der Schweizer- chroniken über die Teller-Episode wörtlich zusammenhängt und sich also wohl auf ein anderes älteres Tellenlied gestützt haben muß. Das Vorhandensein eines solchen im fünfzehnten Jahrhundert ergiebt sich aus der Chronik, die Melchior Ruß zu Luzern am ersten Weinmonat 1482 beendigte. Dieser ist bekanntlich der erste Schweizerchronist, der des Wilhelm Tell Erwähnung thut und durch ihn den Landvogt auf der Platte am See, unmittelbar nach dem Sprunge aus dem Schiff, erschießen läßt, nicht also in der Küßnachter hohlen Gasse. Indem Ruß seine Geschichte über die Gewaltthätigkeiten der Vögte einleiten will und dabei verfrüht schon des Schusses gedacht hat, den Tell nach dem Apfel auf des Kindes Haupt zu richten gezwungen worden, fügt er bei: „als jr das hernach, wie es jm ergieng, werdet hören jn einem liebt." Eben dieses alte Lied nun ist verloren, statt seiner ist nur die muheimische Erneuung übrig. Da aber deren Wortlaut in Angabe oder Beschreibung der Teilen- geschichte gleichlautend ist mit den Angaben und der Ausdrucksweise aller älteren Chronisten, wo diese über Teils Abenteuer berichten, so zeigt sich, daß Lieder und Chroniken über Tell in einem Stil berichten, der bereits im fünfzehnten Jahrhundert ein stationärer geworden war. Und eben dadurch, daß Muheims Lied participirt an dieser traditionellen Berichterstattung, stimmt dasselbe auch wortgetreu mit der Diction und Handlung zusammen, die allen älteren Teilen- spielen eigen ist. Es besteht also zwischen dem schweizerischen Volksliede und dem schweizerischen Volksschauspiele, insofern beide über Tell handeln, der von uns gesuchte Zusammenhang, das nationale, bis auf das einzelne Wort des Ausdruckes sich gleichbleibende EinVerständniß. Damit ist der Weg gesunden, um auf das älteste Tellenschauspiel übergehen zu können. Hier begegnet uns derselbe Mißstand; in seiner echten Gestalt ist uns das Grenzboten III. 1864. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/137>, abgerufen am 20.10.2024.