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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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seither in der allgemeinen Urtheilsweise eingetreten ist. ist auch nachfolgende
Untersuchung, die sich ausschließlich die Geschichte des dramatisirten Wilhelm
Teil vor der Schillerschen Epoche zu ihrem Gegenstande gewählt hat.

Die Ursprungsgeschichte der uns bekannten ältesten Tellenspiele gehört
selbstverständlich der Schweiz allein an,' führt uns aber keineswegs auf jene
literargeschichtlichen Vorfragen zurück, wie has Volksschauspiel hier zu Lande
überhaupt sich gestaltet habe, sondern versetzt uns mitten in die Politik der
fürstlichen Cabinete und der demokratischen Cantone.

Nach den glorreichen Siegen über Burgund war die Schweiz nahe daran,
aus einem Hirtenlande in einen Militärstaat sich zu verkehren. Mit den damaligen
Wciffenerfolgen erwachte gleichzeitig der erste Keim einer nationalen Literatur, und
auch sie war eine kriegerische. Gewesene Feldhauptleute, wie Petermann Etterlin
von Luzern, wurden Chronisten, und ihre Jahrbücher gingen von dem stolzen Plan
aus, die Schicksale des helvetischen Landes von den mythischen Zeiten der Karo¬
linger an bis aus die selbst erlebten Tage von Murren und Grandson immer
siegreich wie" in einer zusammenhängenden Reihe von Trophäen darzustellen.
Das ältere Volkslied vom König Dietrich von Bern, vom Tannhäuser und der
Frau Verene Machte gleichermaßen dem historischen Schlacht-, Spott- und
Ehrenliede Platz, und dieses wieder dehnte sich schnell zu Unförmlich großen
Neimchroniken aus. Unwillig feiernde Söldner und Büchsenmeister, nicht "lin¬
der auch die Land- und Stadtschreiber, die Mönche und ihre geistlichen Notare,
städtische Schulhalter, Zunft- und Schützenschreiber versuchten damals in
meistersängerisch monotonen Neimsprüchen ihr poetisches und politisches Feuer¬
lein anzuzünden, kleinste Ortsbegebenheiten stabil an die Mächtigsten Welt¬
begebenheiten anschließend. Bereits hatte die älteste Befreiungsgeschichte der drei
Waldstädte ihre dichterische Verkörperung in Volksromanzen gesunden; dies
erweist uns Melchior Nuß, dessen Prosachronik das Bruchstück eines alten
Tellenliedes enthält. Ebenso war das Lied von Winkelrieds Opfertod im
Munde des Volkes gewesen, wie das Fragment daraus in Tschudis Chronik
erweist. Doch die raschgchende Zeit von den siebenziger Jahren des fünfzehnten
Jahrhunderts an bis zu dessen Ende, wo alsbald auf den sogenannten Schwaben-
krieg die Mailänder Feldzüge folgten, stand mit der >uhigen Einfalt des alten
einheimischen Volksliedes in keinem Verhältnisse mehr, auch dieses mußte sich
in die beweisführende Breite und Länge des chronikalen Pragmatismus aus-
spinnett lassen, abgerechnet die eitle Weisheit des Politikers, oder die rohe
Eitelkeit des Soldaten, welche wechselweise mit in diese alten Liedertexte hinein-
Pfuschten. Sogeschah es, daß wir das Winkelriedslied nur noch in der mcister-
sängerischen Ausgedehnthcit und Strophenmasse besitzen, welche Hälbsttter in
seinem Liede von dem Streit zu Sempach unziemlich daran gehängt hat; oder
baß das Tellenlicd des fünfzehnten Jahrhunderts nur in der politischen Parodie


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seither in der allgemeinen Urtheilsweise eingetreten ist. ist auch nachfolgende
Untersuchung, die sich ausschließlich die Geschichte des dramatisirten Wilhelm
Teil vor der Schillerschen Epoche zu ihrem Gegenstande gewählt hat.

Die Ursprungsgeschichte der uns bekannten ältesten Tellenspiele gehört
selbstverständlich der Schweiz allein an,' führt uns aber keineswegs auf jene
literargeschichtlichen Vorfragen zurück, wie has Volksschauspiel hier zu Lande
überhaupt sich gestaltet habe, sondern versetzt uns mitten in die Politik der
fürstlichen Cabinete und der demokratischen Cantone.

Nach den glorreichen Siegen über Burgund war die Schweiz nahe daran,
aus einem Hirtenlande in einen Militärstaat sich zu verkehren. Mit den damaligen
Wciffenerfolgen erwachte gleichzeitig der erste Keim einer nationalen Literatur, und
auch sie war eine kriegerische. Gewesene Feldhauptleute, wie Petermann Etterlin
von Luzern, wurden Chronisten, und ihre Jahrbücher gingen von dem stolzen Plan
aus, die Schicksale des helvetischen Landes von den mythischen Zeiten der Karo¬
linger an bis aus die selbst erlebten Tage von Murren und Grandson immer
siegreich wie« in einer zusammenhängenden Reihe von Trophäen darzustellen.
Das ältere Volkslied vom König Dietrich von Bern, vom Tannhäuser und der
Frau Verene Machte gleichermaßen dem historischen Schlacht-, Spott- und
Ehrenliede Platz, und dieses wieder dehnte sich schnell zu Unförmlich großen
Neimchroniken aus. Unwillig feiernde Söldner und Büchsenmeister, nicht «lin¬
der auch die Land- und Stadtschreiber, die Mönche und ihre geistlichen Notare,
städtische Schulhalter, Zunft- und Schützenschreiber versuchten damals in
meistersängerisch monotonen Neimsprüchen ihr poetisches und politisches Feuer¬
lein anzuzünden, kleinste Ortsbegebenheiten stabil an die Mächtigsten Welt¬
begebenheiten anschließend. Bereits hatte die älteste Befreiungsgeschichte der drei
Waldstädte ihre dichterische Verkörperung in Volksromanzen gesunden; dies
erweist uns Melchior Nuß, dessen Prosachronik das Bruchstück eines alten
Tellenliedes enthält. Ebenso war das Lied von Winkelrieds Opfertod im
Munde des Volkes gewesen, wie das Fragment daraus in Tschudis Chronik
erweist. Doch die raschgchende Zeit von den siebenziger Jahren des fünfzehnten
Jahrhunderts an bis zu dessen Ende, wo alsbald auf den sogenannten Schwaben-
krieg die Mailänder Feldzüge folgten, stand mit der >uhigen Einfalt des alten
einheimischen Volksliedes in keinem Verhältnisse mehr, auch dieses mußte sich
in die beweisführende Breite und Länge des chronikalen Pragmatismus aus-
spinnett lassen, abgerechnet die eitle Weisheit des Politikers, oder die rohe
Eitelkeit des Soldaten, welche wechselweise mit in diese alten Liedertexte hinein-
Pfuschten. Sogeschah es, daß wir das Winkelriedslied nur noch in der mcister-
sängerischen Ausgedehnthcit und Strophenmasse besitzen, welche Hälbsttter in
seinem Liede von dem Streit zu Sempach unziemlich daran gehängt hat; oder
baß das Tellenlicd des fünfzehnten Jahrhunderts nur in der politischen Parodie


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[0131] seither in der allgemeinen Urtheilsweise eingetreten ist. ist auch nachfolgende Untersuchung, die sich ausschließlich die Geschichte des dramatisirten Wilhelm Teil vor der Schillerschen Epoche zu ihrem Gegenstande gewählt hat. Die Ursprungsgeschichte der uns bekannten ältesten Tellenspiele gehört selbstverständlich der Schweiz allein an,' führt uns aber keineswegs auf jene literargeschichtlichen Vorfragen zurück, wie has Volksschauspiel hier zu Lande überhaupt sich gestaltet habe, sondern versetzt uns mitten in die Politik der fürstlichen Cabinete und der demokratischen Cantone. Nach den glorreichen Siegen über Burgund war die Schweiz nahe daran, aus einem Hirtenlande in einen Militärstaat sich zu verkehren. Mit den damaligen Wciffenerfolgen erwachte gleichzeitig der erste Keim einer nationalen Literatur, und auch sie war eine kriegerische. Gewesene Feldhauptleute, wie Petermann Etterlin von Luzern, wurden Chronisten, und ihre Jahrbücher gingen von dem stolzen Plan aus, die Schicksale des helvetischen Landes von den mythischen Zeiten der Karo¬ linger an bis aus die selbst erlebten Tage von Murren und Grandson immer siegreich wie« in einer zusammenhängenden Reihe von Trophäen darzustellen. Das ältere Volkslied vom König Dietrich von Bern, vom Tannhäuser und der Frau Verene Machte gleichermaßen dem historischen Schlacht-, Spott- und Ehrenliede Platz, und dieses wieder dehnte sich schnell zu Unförmlich großen Neimchroniken aus. Unwillig feiernde Söldner und Büchsenmeister, nicht «lin¬ der auch die Land- und Stadtschreiber, die Mönche und ihre geistlichen Notare, städtische Schulhalter, Zunft- und Schützenschreiber versuchten damals in meistersängerisch monotonen Neimsprüchen ihr poetisches und politisches Feuer¬ lein anzuzünden, kleinste Ortsbegebenheiten stabil an die Mächtigsten Welt¬ begebenheiten anschließend. Bereits hatte die älteste Befreiungsgeschichte der drei Waldstädte ihre dichterische Verkörperung in Volksromanzen gesunden; dies erweist uns Melchior Nuß, dessen Prosachronik das Bruchstück eines alten Tellenliedes enthält. Ebenso war das Lied von Winkelrieds Opfertod im Munde des Volkes gewesen, wie das Fragment daraus in Tschudis Chronik erweist. Doch die raschgchende Zeit von den siebenziger Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts an bis zu dessen Ende, wo alsbald auf den sogenannten Schwaben- krieg die Mailänder Feldzüge folgten, stand mit der >uhigen Einfalt des alten einheimischen Volksliedes in keinem Verhältnisse mehr, auch dieses mußte sich in die beweisführende Breite und Länge des chronikalen Pragmatismus aus- spinnett lassen, abgerechnet die eitle Weisheit des Politikers, oder die rohe Eitelkeit des Soldaten, welche wechselweise mit in diese alten Liedertexte hinein- Pfuschten. Sogeschah es, daß wir das Winkelriedslied nur noch in der mcister- sängerischen Ausgedehnthcit und Strophenmasse besitzen, welche Hälbsttter in seinem Liede von dem Streit zu Sempach unziemlich daran gehängt hat; oder baß das Tellenlicd des fünfzehnten Jahrhunderts nur in der politischen Parodie 16 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/131>, abgerufen am 28.09.2024.