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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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Batzen auf, die man ihnen aus den Fenstern zuwarf. Einige Harlequine mach¬
ten hierauf Platz unter der Volksmenge, der angekommene Bacchuswagen mit
seinen als Weingötter maskirten Küferknechten fuhr bei Seite, ein Haufen Be¬
rittener in russischen Pelzen, in Nitterharnischen, ja sogar in den Rothfräcken
der damals aufgelösten französischen Schweizergarde zog in den Ring herein
und schloß ihn ab. Immer noch kam kein Tell, dagegen einstweilen ein Männ¬
lein in gelbledernen Hosen, immergrünem Landjägerfrack, mit einem schwarzen
Stutzhütchen. Dieser begann von einem eigenen Gerüste herab dem Auditorium
vorzuerzählen, er sei Napoleon, sei von seiner Gemahlin betrogen worden und
darüber auf Helena gestorben. Nachdem er hierauf in einen besonders bereit
gehaltenen Sarg gelegt und schonend über das Gerüste herabgetragen worden war,
sah man ihn drunten alsbald wieder auferstehen', sein kurzes Pfeifchen stopfen
und tabakrauchend unter den berner Landmädchen umhcrscharmutziren. Plötzlich
aber entsteht Lärm: der Geßler kommt! Ein reichgekleideter Bauer ruft mit ge¬
bieterischer Stimme vom Roß herab: Tau! d. h. Tell. Ihm gegenüber kommt
hieraus ein stämmiger Kerl in geschlitzten Wamms mit einem Büblein und einer
Armbrust aus der nächsten Kellerwirthschaft unter den städtischen Lauben herauf¬
gestiegen und tritt vor den Landvogt. Dieser schreit ihn an:

Tell zeigt stumm auf den mitgebrachten Knaben. Gehler fährt fort:

(Dieser Phrase wird man nachher im ältesten Tellcnspicl wieder begegnen.)
Die Trabanten machen eine Gasse gegen ein vorausgesetztes Ziel, dem Kinde
wird ein Apfel, in welchem ein Pfeil steckt, aufs Haupt gelegt, unter manchen
Gestikulationen drückt der Schütze ab, und in der Freude über den gelungenen
Meisterschuß beginnt der dicke Bacchus mit dem Hanswurste sogleich einen
Fangtanz um die aufgeladenen Weinfässer. Letztere sind inzwischen durch die
Freigebigkeit der zunächst wohnenden Zuschauer mit Lacüte gefüllt worden, Ge߬
ler und Tell stoßen an auf die hohe Negierung, auf die Freiheit, auf die Stadt
Bern, auf den freigebigen Weinkeller. Alles reitet und fährt, wie es gekommen,
wieder zum Thore hinaus, dem heimathlichen Dorfe zu.

Dies waren während der dreißiger Jahre im Gedächtnisse des berner
Landvolkes die letzten Ueberbleibsel vom Tellenspiel. Die Cantone regenerirten
sich damals Politisch und warfen sich zugleich auf die Regenerirung der Volks¬
schule, die überaus vernachlässigt gewesen war. Die berner Negierung ver¬
breitete in den unteren Schichten würdigere Anschauungen, indem sie unter
Anderem Schillers Tell zum Schulbuche machte und die vaterländische Geschichte
zum Lehrgegenstand erhob. Mit ein Product dieses Umschwunges, welcher


Batzen auf, die man ihnen aus den Fenstern zuwarf. Einige Harlequine mach¬
ten hierauf Platz unter der Volksmenge, der angekommene Bacchuswagen mit
seinen als Weingötter maskirten Küferknechten fuhr bei Seite, ein Haufen Be¬
rittener in russischen Pelzen, in Nitterharnischen, ja sogar in den Rothfräcken
der damals aufgelösten französischen Schweizergarde zog in den Ring herein
und schloß ihn ab. Immer noch kam kein Tell, dagegen einstweilen ein Männ¬
lein in gelbledernen Hosen, immergrünem Landjägerfrack, mit einem schwarzen
Stutzhütchen. Dieser begann von einem eigenen Gerüste herab dem Auditorium
vorzuerzählen, er sei Napoleon, sei von seiner Gemahlin betrogen worden und
darüber auf Helena gestorben. Nachdem er hierauf in einen besonders bereit
gehaltenen Sarg gelegt und schonend über das Gerüste herabgetragen worden war,
sah man ihn drunten alsbald wieder auferstehen', sein kurzes Pfeifchen stopfen
und tabakrauchend unter den berner Landmädchen umhcrscharmutziren. Plötzlich
aber entsteht Lärm: der Geßler kommt! Ein reichgekleideter Bauer ruft mit ge¬
bieterischer Stimme vom Roß herab: Tau! d. h. Tell. Ihm gegenüber kommt
hieraus ein stämmiger Kerl in geschlitzten Wamms mit einem Büblein und einer
Armbrust aus der nächsten Kellerwirthschaft unter den städtischen Lauben herauf¬
gestiegen und tritt vor den Landvogt. Dieser schreit ihn an:

Tell zeigt stumm auf den mitgebrachten Knaben. Gehler fährt fort:

(Dieser Phrase wird man nachher im ältesten Tellcnspicl wieder begegnen.)
Die Trabanten machen eine Gasse gegen ein vorausgesetztes Ziel, dem Kinde
wird ein Apfel, in welchem ein Pfeil steckt, aufs Haupt gelegt, unter manchen
Gestikulationen drückt der Schütze ab, und in der Freude über den gelungenen
Meisterschuß beginnt der dicke Bacchus mit dem Hanswurste sogleich einen
Fangtanz um die aufgeladenen Weinfässer. Letztere sind inzwischen durch die
Freigebigkeit der zunächst wohnenden Zuschauer mit Lacüte gefüllt worden, Ge߬
ler und Tell stoßen an auf die hohe Negierung, auf die Freiheit, auf die Stadt
Bern, auf den freigebigen Weinkeller. Alles reitet und fährt, wie es gekommen,
wieder zum Thore hinaus, dem heimathlichen Dorfe zu.

Dies waren während der dreißiger Jahre im Gedächtnisse des berner
Landvolkes die letzten Ueberbleibsel vom Tellenspiel. Die Cantone regenerirten
sich damals Politisch und warfen sich zugleich auf die Regenerirung der Volks¬
schule, die überaus vernachlässigt gewesen war. Die berner Negierung ver¬
breitete in den unteren Schichten würdigere Anschauungen, indem sie unter
Anderem Schillers Tell zum Schulbuche machte und die vaterländische Geschichte
zum Lehrgegenstand erhob. Mit ein Product dieses Umschwunges, welcher


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[0130] Batzen auf, die man ihnen aus den Fenstern zuwarf. Einige Harlequine mach¬ ten hierauf Platz unter der Volksmenge, der angekommene Bacchuswagen mit seinen als Weingötter maskirten Küferknechten fuhr bei Seite, ein Haufen Be¬ rittener in russischen Pelzen, in Nitterharnischen, ja sogar in den Rothfräcken der damals aufgelösten französischen Schweizergarde zog in den Ring herein und schloß ihn ab. Immer noch kam kein Tell, dagegen einstweilen ein Männ¬ lein in gelbledernen Hosen, immergrünem Landjägerfrack, mit einem schwarzen Stutzhütchen. Dieser begann von einem eigenen Gerüste herab dem Auditorium vorzuerzählen, er sei Napoleon, sei von seiner Gemahlin betrogen worden und darüber auf Helena gestorben. Nachdem er hierauf in einen besonders bereit gehaltenen Sarg gelegt und schonend über das Gerüste herabgetragen worden war, sah man ihn drunten alsbald wieder auferstehen', sein kurzes Pfeifchen stopfen und tabakrauchend unter den berner Landmädchen umhcrscharmutziren. Plötzlich aber entsteht Lärm: der Geßler kommt! Ein reichgekleideter Bauer ruft mit ge¬ bieterischer Stimme vom Roß herab: Tau! d. h. Tell. Ihm gegenüber kommt hieraus ein stämmiger Kerl in geschlitzten Wamms mit einem Büblein und einer Armbrust aus der nächsten Kellerwirthschaft unter den städtischen Lauben herauf¬ gestiegen und tritt vor den Landvogt. Dieser schreit ihn an: Tell zeigt stumm auf den mitgebrachten Knaben. Gehler fährt fort: (Dieser Phrase wird man nachher im ältesten Tellcnspicl wieder begegnen.) Die Trabanten machen eine Gasse gegen ein vorausgesetztes Ziel, dem Kinde wird ein Apfel, in welchem ein Pfeil steckt, aufs Haupt gelegt, unter manchen Gestikulationen drückt der Schütze ab, und in der Freude über den gelungenen Meisterschuß beginnt der dicke Bacchus mit dem Hanswurste sogleich einen Fangtanz um die aufgeladenen Weinfässer. Letztere sind inzwischen durch die Freigebigkeit der zunächst wohnenden Zuschauer mit Lacüte gefüllt worden, Ge߬ ler und Tell stoßen an auf die hohe Negierung, auf die Freiheit, auf die Stadt Bern, auf den freigebigen Weinkeller. Alles reitet und fährt, wie es gekommen, wieder zum Thore hinaus, dem heimathlichen Dorfe zu. Dies waren während der dreißiger Jahre im Gedächtnisse des berner Landvolkes die letzten Ueberbleibsel vom Tellenspiel. Die Cantone regenerirten sich damals Politisch und warfen sich zugleich auf die Regenerirung der Volks¬ schule, die überaus vernachlässigt gewesen war. Die berner Negierung ver¬ breitete in den unteren Schichten würdigere Anschauungen, indem sie unter Anderem Schillers Tell zum Schulbuche machte und die vaterländische Geschichte zum Lehrgegenstand erhob. Mit ein Product dieses Umschwunges, welcher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/130>, abgerufen am 20.10.2024.