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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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tung Apfelbaum als solcher, sondern immer nur von einem einzelnen Baum
dieser Gattung hoffe man Aepfel zu gewinnen. Der Deduction. es gehöre
zum Begriff der Menschheit, daß einmal ein Urmensch erscheine, in welchem
dieser Begriff erst wirklich werde, hielt Strauß den Einwand entgegen, daß es
dann ebensogut einen Urlöwen, einen Urfisch geben müßte. Und wenn die
Hegelianer weiter meinten, der einzelne Mensch sei immer etwas Unvollkomme¬
nes, damit aber ein Mensch das Wesen der menschlichen Natur rein in sich
darstellen könne, habe er unmittelbar durch den Begriff selbst in die empfäng¬
liche Menschennatur gehest werden müssen, so wußte Strauß diese monströse
Beweisführung durch die andere zu parodiren: auch aller bisherigen Poesie
klebt die Beschränktheit ihres Ursprungs von einzelnen Dichtern an, die Idee
der Poesie verlangt aber eine absolute Verwirklichung, welche nur zu erreichen
ist, wenn sie ohne Vermittlung durch ein dichtendes Individuum unmittelbar
selbst sich Realität giebt. Die Menschenwelt kann nur die reine Empfänglich¬
keit darbieten, und da nun die Empfänglichkeit für ein Gedicht unmittelbar als
Papier vorhanden ist, so muß es nothwendig einmal dahin kommen, daß das
absolute Gedicht durch die Poesie als solche ohne Dazwischenkunft einer mensch¬
lichen Hand auf das empfängliche Papier geschrieben wird.

Mehr Aussicht auf eine Verständigung schien sich wenigstens im Anfange
mit den liberalen Elementen der schleiermacherschen Schule zu zeigen. Zwar
mühte man sich hier ab, die Geschichtlichkeit des urbildlichen Christus, wie ihn
Schleiermacher aufgestellt.hatte, nachzuweisen. Allein man läugnete wenigstens
nicht, daß das Mythische Eingang in die Geschichte Jesu gefunden habe, nur
wurdH dasselbe möglichst eingeschränkt und auf eine schärfere Grenzlinie des
Mythischen und Historischen gedrungen. Der strenge Jnspirationsbegriff war
längst aufgegeben. Die heiligen Schriftsteller sollten zwar inspirirt sein, aber
die Eingebung sollte eine blos partielle sein, auf den religiösen, nicht aber auf
den historischen Theil sich beziehen. Allein wie ließ sich beides trennen, wenn
doch die erzählten wunderhaften Begebenheiten eben zum Beweis für die höhere
Natur Jesu dienen sollten? Offenbar wollte man der Kirche möglichst wenig
Vergeben, aver doch die gröbsten Anstöße wenigstens aus dem Wege räumen.
So Verfuhr man auch mit den Wundern. Man hätte sie am liebsten ganz
beseitigt und kam bei der Auslegung der einzelnen Erzählungen nicht selten
auf die sogenannte natürliche Erklärung, auf die Auskunftsmittel des Rationalis¬
mus zurück. Dem heutigen Zustand der Naturforschung gegenüber getraute
man sich das Wunder nicht mehr einfach als eine Durchbrechung der Natur¬
gesetze durch unmittelbares göttliches Eingreifen aufzufassen; man machte Vielmehr
den ausgedehntesten Gebrauch Von dem Begriff der Herrschaft des Geistes über
die Natur, unterschied einen höheren Naturlauf und einen niederen, und appel-
lirte -- so Tholuck an erst künftig zu entdeckende Naturgesetze. Am leichtesten


tung Apfelbaum als solcher, sondern immer nur von einem einzelnen Baum
dieser Gattung hoffe man Aepfel zu gewinnen. Der Deduction. es gehöre
zum Begriff der Menschheit, daß einmal ein Urmensch erscheine, in welchem
dieser Begriff erst wirklich werde, hielt Strauß den Einwand entgegen, daß es
dann ebensogut einen Urlöwen, einen Urfisch geben müßte. Und wenn die
Hegelianer weiter meinten, der einzelne Mensch sei immer etwas Unvollkomme¬
nes, damit aber ein Mensch das Wesen der menschlichen Natur rein in sich
darstellen könne, habe er unmittelbar durch den Begriff selbst in die empfäng¬
liche Menschennatur gehest werden müssen, so wußte Strauß diese monströse
Beweisführung durch die andere zu parodiren: auch aller bisherigen Poesie
klebt die Beschränktheit ihres Ursprungs von einzelnen Dichtern an, die Idee
der Poesie verlangt aber eine absolute Verwirklichung, welche nur zu erreichen
ist, wenn sie ohne Vermittlung durch ein dichtendes Individuum unmittelbar
selbst sich Realität giebt. Die Menschenwelt kann nur die reine Empfänglich¬
keit darbieten, und da nun die Empfänglichkeit für ein Gedicht unmittelbar als
Papier vorhanden ist, so muß es nothwendig einmal dahin kommen, daß das
absolute Gedicht durch die Poesie als solche ohne Dazwischenkunft einer mensch¬
lichen Hand auf das empfängliche Papier geschrieben wird.

Mehr Aussicht auf eine Verständigung schien sich wenigstens im Anfange
mit den liberalen Elementen der schleiermacherschen Schule zu zeigen. Zwar
mühte man sich hier ab, die Geschichtlichkeit des urbildlichen Christus, wie ihn
Schleiermacher aufgestellt.hatte, nachzuweisen. Allein man läugnete wenigstens
nicht, daß das Mythische Eingang in die Geschichte Jesu gefunden habe, nur
wurdH dasselbe möglichst eingeschränkt und auf eine schärfere Grenzlinie des
Mythischen und Historischen gedrungen. Der strenge Jnspirationsbegriff war
längst aufgegeben. Die heiligen Schriftsteller sollten zwar inspirirt sein, aber
die Eingebung sollte eine blos partielle sein, auf den religiösen, nicht aber auf
den historischen Theil sich beziehen. Allein wie ließ sich beides trennen, wenn
doch die erzählten wunderhaften Begebenheiten eben zum Beweis für die höhere
Natur Jesu dienen sollten? Offenbar wollte man der Kirche möglichst wenig
Vergeben, aver doch die gröbsten Anstöße wenigstens aus dem Wege räumen.
So Verfuhr man auch mit den Wundern. Man hätte sie am liebsten ganz
beseitigt und kam bei der Auslegung der einzelnen Erzählungen nicht selten
auf die sogenannte natürliche Erklärung, auf die Auskunftsmittel des Rationalis¬
mus zurück. Dem heutigen Zustand der Naturforschung gegenüber getraute
man sich das Wunder nicht mehr einfach als eine Durchbrechung der Natur¬
gesetze durch unmittelbares göttliches Eingreifen aufzufassen; man machte Vielmehr
den ausgedehntesten Gebrauch Von dem Begriff der Herrschaft des Geistes über
die Natur, unterschied einen höheren Naturlauf und einen niederen, und appel-
lirte — so Tholuck an erst künftig zu entdeckende Naturgesetze. Am leichtesten


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[0091] tung Apfelbaum als solcher, sondern immer nur von einem einzelnen Baum dieser Gattung hoffe man Aepfel zu gewinnen. Der Deduction. es gehöre zum Begriff der Menschheit, daß einmal ein Urmensch erscheine, in welchem dieser Begriff erst wirklich werde, hielt Strauß den Einwand entgegen, daß es dann ebensogut einen Urlöwen, einen Urfisch geben müßte. Und wenn die Hegelianer weiter meinten, der einzelne Mensch sei immer etwas Unvollkomme¬ nes, damit aber ein Mensch das Wesen der menschlichen Natur rein in sich darstellen könne, habe er unmittelbar durch den Begriff selbst in die empfäng¬ liche Menschennatur gehest werden müssen, so wußte Strauß diese monströse Beweisführung durch die andere zu parodiren: auch aller bisherigen Poesie klebt die Beschränktheit ihres Ursprungs von einzelnen Dichtern an, die Idee der Poesie verlangt aber eine absolute Verwirklichung, welche nur zu erreichen ist, wenn sie ohne Vermittlung durch ein dichtendes Individuum unmittelbar selbst sich Realität giebt. Die Menschenwelt kann nur die reine Empfänglich¬ keit darbieten, und da nun die Empfänglichkeit für ein Gedicht unmittelbar als Papier vorhanden ist, so muß es nothwendig einmal dahin kommen, daß das absolute Gedicht durch die Poesie als solche ohne Dazwischenkunft einer mensch¬ lichen Hand auf das empfängliche Papier geschrieben wird. Mehr Aussicht auf eine Verständigung schien sich wenigstens im Anfange mit den liberalen Elementen der schleiermacherschen Schule zu zeigen. Zwar mühte man sich hier ab, die Geschichtlichkeit des urbildlichen Christus, wie ihn Schleiermacher aufgestellt.hatte, nachzuweisen. Allein man läugnete wenigstens nicht, daß das Mythische Eingang in die Geschichte Jesu gefunden habe, nur wurdH dasselbe möglichst eingeschränkt und auf eine schärfere Grenzlinie des Mythischen und Historischen gedrungen. Der strenge Jnspirationsbegriff war längst aufgegeben. Die heiligen Schriftsteller sollten zwar inspirirt sein, aber die Eingebung sollte eine blos partielle sein, auf den religiösen, nicht aber auf den historischen Theil sich beziehen. Allein wie ließ sich beides trennen, wenn doch die erzählten wunderhaften Begebenheiten eben zum Beweis für die höhere Natur Jesu dienen sollten? Offenbar wollte man der Kirche möglichst wenig Vergeben, aver doch die gröbsten Anstöße wenigstens aus dem Wege räumen. So Verfuhr man auch mit den Wundern. Man hätte sie am liebsten ganz beseitigt und kam bei der Auslegung der einzelnen Erzählungen nicht selten auf die sogenannte natürliche Erklärung, auf die Auskunftsmittel des Rationalis¬ mus zurück. Dem heutigen Zustand der Naturforschung gegenüber getraute man sich das Wunder nicht mehr einfach als eine Durchbrechung der Natur¬ gesetze durch unmittelbares göttliches Eingreifen aufzufassen; man machte Vielmehr den ausgedehntesten Gebrauch Von dem Begriff der Herrschaft des Geistes über die Natur, unterschied einen höheren Naturlauf und einen niederen, und appel- lirte — so Tholuck an erst künftig zu entdeckende Naturgesetze. Am leichtesten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/91>, abgerufen am 25.08.2024.