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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Ernster hatte es der Vertheidiger des älteren Supranaturalismus, der
Superintendent Steudel, der sich als Straußs Vorgesetzter fühlte, gemeint,
wenn er die Bedeutung des Historischen im Leben Jesu hervorhob, ohne welche
die Thatsache des späteren Christenthums nicht zu erklären sei. Strauß ant¬
wortete, die historische Persönlichkeit Jesu und seine wirkliche Bedeutung habe
er nicht gelciugnet; aber in dem. was er als. Mythus nachweise, habe eine
Kraft und Trost für die Gemüther gelegen. Daß Petrus im Munde des Fisches
eine Münze fand, hätte schwerlich irgendjemand erbaut, wenn es nicht Christus
gewesen, auf den diese Geschichte bezogen wurde. Besonders aber wies er an
der Predigt des Apostels Paulus nach, wie wenig auf die äußerlichen Einzel¬
heiten, die wunderbaren Anekdoten im Leben Jesu ankam. Stellte doch Pau¬
lus seine ganze Predigt einfach auf Christus den Gestorbenen und Auferstan¬
denen; von dessen Wunderthaten aber wußte der Apostel nichts oder wollte
nichts wissen; nirgends gedenkt er ihrer, nirgends gründet er auf sie irgendeine
Lehre. Gegen den Vorwurf aber, daß er das Heilige nicht heilig, sondern in
gleichgültigem und verletzenden Tone behandelt habe, wehrt sich Strauß mit den
Worten: "Ja ich hasse und verachte jenes andächtige, zerknirschte und angst¬
volle Reden in wissenschaftlichen Untersuchungen, welches auf jedem Schritte-
sich und den Leser mit dem Verluste der Seligkeit bedroht, und ich weiß,
warum ich es hasse und verachte. In wissenschaftlichen Dingen erhält der Geist
sich frei, sott also auch freimüthig das Haupt erheben, nicht knechtisch es
senken. Der Ausdruck heilig und Heiliges ist in wissenschaftlichen Dingen ein
Ueberfluß, das Höchste für die Wissenschaft ist objectiv Wahrheit und sub-
jectiv Wahrheitsliebe. Jene ist ihr Heiliges, diese die heilige Behandlung des
Heiligen."

Aber auch die hegelsche Schule wollte, obgleich Hengstenberg von Strauß
die wahren Konsequenzen des hegelschen Systems gezogen sah, nichts mit dem
gefährlichen Buch zu thun haben; sie lehnte die Verantwortung dafür ängstlich
von sich ab und meinte, die philosophische Kritik müsse es sich zur Aufgabe
setzen, einen Gegenstand wirklich zu "begreifen"; das hieß in der Sprache der
hegelschen Fvrmalmänner nichts andres, als daß alle Erzählungen im Leben
Jesu von der übernatürlichen Erzeugung bis zur Auferstehung, nachdem ihre
ideale Wahrheit aufgezeigt, auch als wirkliche Thatsachen anerkannt werden
sollten. Damit war das Geschäft der Kritik zu einer bloßen Scheinoperation
herabgesetzt; es hieß, wie Strauß treffend bemerkte, Erbsen lesen mit dem Vor¬
satz, sie alle gut zu finden. Der hegelschen Schule war der gesunde Menschen¬
verstand abhanden gekommen, sie konnte nicht empfindlicher getroffen werden,
als indem sie vor diese Instanz verwiesen wurde. Behauptete Bruno Bauer,
nothwendig habe die menschliche Natur im Allgemeinen einmal ein absolutes
Individuum hervorbringen müssen, so erwiderte Strauß, nicht von der Gat-


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Ernster hatte es der Vertheidiger des älteren Supranaturalismus, der
Superintendent Steudel, der sich als Straußs Vorgesetzter fühlte, gemeint,
wenn er die Bedeutung des Historischen im Leben Jesu hervorhob, ohne welche
die Thatsache des späteren Christenthums nicht zu erklären sei. Strauß ant¬
wortete, die historische Persönlichkeit Jesu und seine wirkliche Bedeutung habe
er nicht gelciugnet; aber in dem. was er als. Mythus nachweise, habe eine
Kraft und Trost für die Gemüther gelegen. Daß Petrus im Munde des Fisches
eine Münze fand, hätte schwerlich irgendjemand erbaut, wenn es nicht Christus
gewesen, auf den diese Geschichte bezogen wurde. Besonders aber wies er an
der Predigt des Apostels Paulus nach, wie wenig auf die äußerlichen Einzel¬
heiten, die wunderbaren Anekdoten im Leben Jesu ankam. Stellte doch Pau¬
lus seine ganze Predigt einfach auf Christus den Gestorbenen und Auferstan¬
denen; von dessen Wunderthaten aber wußte der Apostel nichts oder wollte
nichts wissen; nirgends gedenkt er ihrer, nirgends gründet er auf sie irgendeine
Lehre. Gegen den Vorwurf aber, daß er das Heilige nicht heilig, sondern in
gleichgültigem und verletzenden Tone behandelt habe, wehrt sich Strauß mit den
Worten: „Ja ich hasse und verachte jenes andächtige, zerknirschte und angst¬
volle Reden in wissenschaftlichen Untersuchungen, welches auf jedem Schritte-
sich und den Leser mit dem Verluste der Seligkeit bedroht, und ich weiß,
warum ich es hasse und verachte. In wissenschaftlichen Dingen erhält der Geist
sich frei, sott also auch freimüthig das Haupt erheben, nicht knechtisch es
senken. Der Ausdruck heilig und Heiliges ist in wissenschaftlichen Dingen ein
Ueberfluß, das Höchste für die Wissenschaft ist objectiv Wahrheit und sub-
jectiv Wahrheitsliebe. Jene ist ihr Heiliges, diese die heilige Behandlung des
Heiligen."

Aber auch die hegelsche Schule wollte, obgleich Hengstenberg von Strauß
die wahren Konsequenzen des hegelschen Systems gezogen sah, nichts mit dem
gefährlichen Buch zu thun haben; sie lehnte die Verantwortung dafür ängstlich
von sich ab und meinte, die philosophische Kritik müsse es sich zur Aufgabe
setzen, einen Gegenstand wirklich zu „begreifen"; das hieß in der Sprache der
hegelschen Fvrmalmänner nichts andres, als daß alle Erzählungen im Leben
Jesu von der übernatürlichen Erzeugung bis zur Auferstehung, nachdem ihre
ideale Wahrheit aufgezeigt, auch als wirkliche Thatsachen anerkannt werden
sollten. Damit war das Geschäft der Kritik zu einer bloßen Scheinoperation
herabgesetzt; es hieß, wie Strauß treffend bemerkte, Erbsen lesen mit dem Vor¬
satz, sie alle gut zu finden. Der hegelschen Schule war der gesunde Menschen¬
verstand abhanden gekommen, sie konnte nicht empfindlicher getroffen werden,
als indem sie vor diese Instanz verwiesen wurde. Behauptete Bruno Bauer,
nothwendig habe die menschliche Natur im Allgemeinen einmal ein absolutes
Individuum hervorbringen müssen, so erwiderte Strauß, nicht von der Gat-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/90>, abgerufen am 25.08.2024.