Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wurde man mit den Krankcnheilungcn fertig, für welche man Jesus ein beson¬
deres "Talent" zuschrieb und die Analogie des thierischen Magnetismus zu
Hilfe zog. Schwieriger war es schon mit den Besessenen; die Anbeguemung
Jesu an Voiksvorstellungen war hier die Annahme, mit der sich Neander zu
helfen suchte; es habe sich um einen Irrthum gehandelt, dessen Bekämpfung
nicht zu Jesu Beruf gehörte, da er das religiöse Interesse nichts anging. Engels¬
erscheinungen, die wunderhaften Vorgänge bei der Taufe, die Verklärung werden
zu Visionen herabgesetzt, die Verwandlung des Wassers in Wein auf der Hoch¬
zeit zu Kana als Potenzirung des Wassers zu weinartigcr Kraft nach Art des
Mineralwassers gefaßt. Die Speisung der Fünftausend, meint Neander, sei
ja kein reines Schaffen aus dem Nichts, sondern nur eine Vervielfältigung schon
vorhandener Substanzen oder Potenzirung der in denselben wohnenden Kräfte.
So soll überall das Wunder um einen Grad natürlicher, für das vernünftige
Denken annehmbarer gemacht werden, wozu Olshausen noch die unglückliche
Kategorie des "beschleunigten Naturprocesses" erfand. In Betreff der Todten-
erweckungen will Neander es geradezu unentschieden lassen, ob die Erweckten
schon förmlich gestorben oder nur in einem todtenähnlichen Zustand waren. Ja
selbst bei der Auferstehung Jesu rüttelte Hase an der Realität des Todes, da nur
entweder ein Anfang der Fäulniß oder die Verletzung eines zum Leben noth¬
wendigen Organs eine sichere Gewähr des Todes sein könnte, beides aber bei
Jesus sich nicht nachweisen lasse. Was die wirkliche Meinung Hases ist, wird
freilich hinter einem undurchdringlichen Nebel von "Wenn" und "Aber" und
"Vielleicht" versteckt.

Was sind dies nun aber alles für jämmerliche Ausflüchte, um dem Zu-
geständniß zu entgehen, daß uns die Geschichte Jesu durch sagenhafte Züge
entstellt überliefert worden ist? Gerade heraus -- ist es die Meinung der
Evangelisten, daß die Versuchung Jesu eine Vision, ein Symbol ist, wenn sie
doch den Satan leibhaftig zu ihm treten lassen? Ist es ihre Mein-ng, daß die
Engel, die sie an Gestalt und Kleidung beschreiben, nur ein Gesicht der An¬
wesenden sind? Ist es ihre Meinung, daß die Wunderthaten, die Jesus ver¬
richtete, nach Naturgesetzen erfolgten, die nur uns zur Zeit noch unbekannt
sind? Ist es ihre Meinung, daß Lazarus. als ihn Jesus erweckte, blos
scheintodt war? ist dies die Meinung des Evangelisten, der bereits die Fäul¬
niß begonnen sein läßt und in der wunderbaren Wiedererweckung einen Haupt¬
beweis für die höhere Abkunft und Macht Jesu erblickt? Wenn aber alles
dies nicht die Meinung des Evangeliums ist. sondern seinem klaren Sinn viel¬
mehr zuwiderläuft, mit welchem Rechte macht dann eine solche Theologie den
Anspruch auf Recktgläubigkeit? Ihr Verfahren ist überall dies, daß sie das
einfache Wort der evangelischen Erzählung umbiegt, verdreht, ihm Gewalt an¬
thut. Es sind die letzten verzweifelten Künste einer Theologie, welche glauben


wurde man mit den Krankcnheilungcn fertig, für welche man Jesus ein beson¬
deres „Talent" zuschrieb und die Analogie des thierischen Magnetismus zu
Hilfe zog. Schwieriger war es schon mit den Besessenen; die Anbeguemung
Jesu an Voiksvorstellungen war hier die Annahme, mit der sich Neander zu
helfen suchte; es habe sich um einen Irrthum gehandelt, dessen Bekämpfung
nicht zu Jesu Beruf gehörte, da er das religiöse Interesse nichts anging. Engels¬
erscheinungen, die wunderhaften Vorgänge bei der Taufe, die Verklärung werden
zu Visionen herabgesetzt, die Verwandlung des Wassers in Wein auf der Hoch¬
zeit zu Kana als Potenzirung des Wassers zu weinartigcr Kraft nach Art des
Mineralwassers gefaßt. Die Speisung der Fünftausend, meint Neander, sei
ja kein reines Schaffen aus dem Nichts, sondern nur eine Vervielfältigung schon
vorhandener Substanzen oder Potenzirung der in denselben wohnenden Kräfte.
So soll überall das Wunder um einen Grad natürlicher, für das vernünftige
Denken annehmbarer gemacht werden, wozu Olshausen noch die unglückliche
Kategorie des „beschleunigten Naturprocesses" erfand. In Betreff der Todten-
erweckungen will Neander es geradezu unentschieden lassen, ob die Erweckten
schon förmlich gestorben oder nur in einem todtenähnlichen Zustand waren. Ja
selbst bei der Auferstehung Jesu rüttelte Hase an der Realität des Todes, da nur
entweder ein Anfang der Fäulniß oder die Verletzung eines zum Leben noth¬
wendigen Organs eine sichere Gewähr des Todes sein könnte, beides aber bei
Jesus sich nicht nachweisen lasse. Was die wirkliche Meinung Hases ist, wird
freilich hinter einem undurchdringlichen Nebel von „Wenn" und „Aber" und
„Vielleicht" versteckt.

Was sind dies nun aber alles für jämmerliche Ausflüchte, um dem Zu-
geständniß zu entgehen, daß uns die Geschichte Jesu durch sagenhafte Züge
entstellt überliefert worden ist? Gerade heraus — ist es die Meinung der
Evangelisten, daß die Versuchung Jesu eine Vision, ein Symbol ist, wenn sie
doch den Satan leibhaftig zu ihm treten lassen? Ist es ihre Mein-ng, daß die
Engel, die sie an Gestalt und Kleidung beschreiben, nur ein Gesicht der An¬
wesenden sind? Ist es ihre Meinung, daß die Wunderthaten, die Jesus ver¬
richtete, nach Naturgesetzen erfolgten, die nur uns zur Zeit noch unbekannt
sind? Ist es ihre Meinung, daß Lazarus. als ihn Jesus erweckte, blos
scheintodt war? ist dies die Meinung des Evangelisten, der bereits die Fäul¬
niß begonnen sein läßt und in der wunderbaren Wiedererweckung einen Haupt¬
beweis für die höhere Abkunft und Macht Jesu erblickt? Wenn aber alles
dies nicht die Meinung des Evangeliums ist. sondern seinem klaren Sinn viel¬
mehr zuwiderläuft, mit welchem Rechte macht dann eine solche Theologie den
Anspruch auf Recktgläubigkeit? Ihr Verfahren ist überall dies, daß sie das
einfache Wort der evangelischen Erzählung umbiegt, verdreht, ihm Gewalt an¬
thut. Es sind die letzten verzweifelten Künste einer Theologie, welche glauben


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0092" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188662"/>
          <p xml:id="ID_278" prev="#ID_277"> wurde man mit den Krankcnheilungcn fertig, für welche man Jesus ein beson¬<lb/>
deres &#x201E;Talent" zuschrieb und die Analogie des thierischen Magnetismus zu<lb/>
Hilfe zog. Schwieriger war es schon mit den Besessenen; die Anbeguemung<lb/>
Jesu an Voiksvorstellungen war hier die Annahme, mit der sich Neander zu<lb/>
helfen suchte; es habe sich um einen Irrthum gehandelt, dessen Bekämpfung<lb/>
nicht zu Jesu Beruf gehörte, da er das religiöse Interesse nichts anging. Engels¬<lb/>
erscheinungen, die wunderhaften Vorgänge bei der Taufe, die Verklärung werden<lb/>
zu Visionen herabgesetzt, die Verwandlung des Wassers in Wein auf der Hoch¬<lb/>
zeit zu Kana als Potenzirung des Wassers zu weinartigcr Kraft nach Art des<lb/>
Mineralwassers gefaßt. Die Speisung der Fünftausend, meint Neander, sei<lb/>
ja kein reines Schaffen aus dem Nichts, sondern nur eine Vervielfältigung schon<lb/>
vorhandener Substanzen oder Potenzirung der in denselben wohnenden Kräfte.<lb/>
So soll überall das Wunder um einen Grad natürlicher, für das vernünftige<lb/>
Denken annehmbarer gemacht werden, wozu Olshausen noch die unglückliche<lb/>
Kategorie des &#x201E;beschleunigten Naturprocesses" erfand. In Betreff der Todten-<lb/>
erweckungen will Neander es geradezu unentschieden lassen, ob die Erweckten<lb/>
schon förmlich gestorben oder nur in einem todtenähnlichen Zustand waren. Ja<lb/>
selbst bei der Auferstehung Jesu rüttelte Hase an der Realität des Todes, da nur<lb/>
entweder ein Anfang der Fäulniß oder die Verletzung eines zum Leben noth¬<lb/>
wendigen Organs eine sichere Gewähr des Todes sein könnte, beides aber bei<lb/>
Jesus sich nicht nachweisen lasse. Was die wirkliche Meinung Hases ist, wird<lb/>
freilich hinter einem undurchdringlichen Nebel von &#x201E;Wenn" und &#x201E;Aber" und<lb/>
&#x201E;Vielleicht" versteckt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_279" next="#ID_280"> Was sind dies nun aber alles für jämmerliche Ausflüchte, um dem Zu-<lb/>
geständniß zu entgehen, daß uns die Geschichte Jesu durch sagenhafte Züge<lb/>
entstellt überliefert worden ist? Gerade heraus &#x2014; ist es die Meinung der<lb/>
Evangelisten, daß die Versuchung Jesu eine Vision, ein Symbol ist, wenn sie<lb/>
doch den Satan leibhaftig zu ihm treten lassen? Ist es ihre Mein-ng, daß die<lb/>
Engel, die sie an Gestalt und Kleidung beschreiben, nur ein Gesicht der An¬<lb/>
wesenden sind? Ist es ihre Meinung, daß die Wunderthaten, die Jesus ver¬<lb/>
richtete, nach Naturgesetzen erfolgten, die nur uns zur Zeit noch unbekannt<lb/>
sind? Ist es ihre Meinung, daß Lazarus. als ihn Jesus erweckte, blos<lb/>
scheintodt war? ist dies die Meinung des Evangelisten, der bereits die Fäul¬<lb/>
niß begonnen sein läßt und in der wunderbaren Wiedererweckung einen Haupt¬<lb/>
beweis für die höhere Abkunft und Macht Jesu erblickt? Wenn aber alles<lb/>
dies nicht die Meinung des Evangeliums ist. sondern seinem klaren Sinn viel¬<lb/>
mehr zuwiderläuft, mit welchem Rechte macht dann eine solche Theologie den<lb/>
Anspruch auf Recktgläubigkeit? Ihr Verfahren ist überall dies, daß sie das<lb/>
einfache Wort der evangelischen Erzählung umbiegt, verdreht, ihm Gewalt an¬<lb/>
thut.  Es sind die letzten verzweifelten Künste einer Theologie, welche glauben</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0092] wurde man mit den Krankcnheilungcn fertig, für welche man Jesus ein beson¬ deres „Talent" zuschrieb und die Analogie des thierischen Magnetismus zu Hilfe zog. Schwieriger war es schon mit den Besessenen; die Anbeguemung Jesu an Voiksvorstellungen war hier die Annahme, mit der sich Neander zu helfen suchte; es habe sich um einen Irrthum gehandelt, dessen Bekämpfung nicht zu Jesu Beruf gehörte, da er das religiöse Interesse nichts anging. Engels¬ erscheinungen, die wunderhaften Vorgänge bei der Taufe, die Verklärung werden zu Visionen herabgesetzt, die Verwandlung des Wassers in Wein auf der Hoch¬ zeit zu Kana als Potenzirung des Wassers zu weinartigcr Kraft nach Art des Mineralwassers gefaßt. Die Speisung der Fünftausend, meint Neander, sei ja kein reines Schaffen aus dem Nichts, sondern nur eine Vervielfältigung schon vorhandener Substanzen oder Potenzirung der in denselben wohnenden Kräfte. So soll überall das Wunder um einen Grad natürlicher, für das vernünftige Denken annehmbarer gemacht werden, wozu Olshausen noch die unglückliche Kategorie des „beschleunigten Naturprocesses" erfand. In Betreff der Todten- erweckungen will Neander es geradezu unentschieden lassen, ob die Erweckten schon förmlich gestorben oder nur in einem todtenähnlichen Zustand waren. Ja selbst bei der Auferstehung Jesu rüttelte Hase an der Realität des Todes, da nur entweder ein Anfang der Fäulniß oder die Verletzung eines zum Leben noth¬ wendigen Organs eine sichere Gewähr des Todes sein könnte, beides aber bei Jesus sich nicht nachweisen lasse. Was die wirkliche Meinung Hases ist, wird freilich hinter einem undurchdringlichen Nebel von „Wenn" und „Aber" und „Vielleicht" versteckt. Was sind dies nun aber alles für jämmerliche Ausflüchte, um dem Zu- geständniß zu entgehen, daß uns die Geschichte Jesu durch sagenhafte Züge entstellt überliefert worden ist? Gerade heraus — ist es die Meinung der Evangelisten, daß die Versuchung Jesu eine Vision, ein Symbol ist, wenn sie doch den Satan leibhaftig zu ihm treten lassen? Ist es ihre Mein-ng, daß die Engel, die sie an Gestalt und Kleidung beschreiben, nur ein Gesicht der An¬ wesenden sind? Ist es ihre Meinung, daß die Wunderthaten, die Jesus ver¬ richtete, nach Naturgesetzen erfolgten, die nur uns zur Zeit noch unbekannt sind? Ist es ihre Meinung, daß Lazarus. als ihn Jesus erweckte, blos scheintodt war? ist dies die Meinung des Evangelisten, der bereits die Fäul¬ niß begonnen sein läßt und in der wunderbaren Wiedererweckung einen Haupt¬ beweis für die höhere Abkunft und Macht Jesu erblickt? Wenn aber alles dies nicht die Meinung des Evangeliums ist. sondern seinem klaren Sinn viel¬ mehr zuwiderläuft, mit welchem Rechte macht dann eine solche Theologie den Anspruch auf Recktgläubigkeit? Ihr Verfahren ist überall dies, daß sie das einfache Wort der evangelischen Erzählung umbiegt, verdreht, ihm Gewalt an¬ thut. Es sind die letzten verzweifelten Künste einer Theologie, welche glauben

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/92
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/92>, abgerufen am 25.08.2024.