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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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nur aus den Verhältnissen einer Zeit erklärlich ist, welche auch über die denkbar
höchste Lebensdauer des Apostels weit hinausgeht.

Es ist schon an sich schwer glaublich, daß ein galiläischer Fischer sich in
seinem hohen Alter in die alexandrinische Religionsphilosophie hineinarbeitete,
daß ein Jünger Jesu, der sein täglicher Genosse war. ihn auf seinen Wan¬
derungen begleitete, von Anfang an Zeuge seines öffentlicken Auftretens war.
daß ein solcher das Leben seines Meisters aus dem Gesichtspunkt einer specula-
tiven Idee zu schreiben unternahm. Aber es kommt dazu, daß der Verfasser
eine Unbet'anntschaft mit jüdischen Orten und Gebräuchen verräth, welche jede
Möglichkeit ausschließt, daß er ein Galiläer war und aus der Erinnerung schrieb.
Niemand außer Johannes weiß z. B. von einem Bethanien am Jordan, kein
jüdischer oder christlicher Schriftsteller erwähnt den heilkräftigen Teich Bethesda,
und wenn der Verfasser zweimal den Kaiaphas als Hohepriester "jenes Jahrs"
bezeichnet, also einen jährlichen Wechsel dieses Amtes voraussetzt, so mußte
dagegen jeder geborene Palästinenser wissen, daß dies ein Irrthum ist. zumal
gerade Kaiaphas zehn Jahre lang hintereinander von 35--36, also während
der ganzen Lehrzeit Jesu dieses Amt bekleidete. ,

Die kirchlichen Streitigkeiten des zweiten Jahrhunderte geben uns noch
einige Daten an die Hand, welche auf das Verhältniß des vierten Evangeliums
zu den Synoptikern ein Licht werfen, das für die Frage der Echtheit des
ersteren geradezu entscheidend ist und auch die Zeit seiner Entstehung näher
beleuchtet. Es ist die Differenz erwähnt worden, welche in Bezug auf den Tag
des letzten Mahls und des Todes Jesu zwischen der synoptischen und der johan-
neischen Darstellung besteht. Nach der ersteren hat Jesus am 14. Nisan mit den
Jüngern das Passahmahl gehalten und ist am 1ö. hingerichtet worden. Nach
dieser dagegen hielt er das letzte Mahl, das kein Passahmahl war, am 13. und
starb am 14. als das Passablamm. Nun entstand um das Jahr 160 ein Streit
zwischen der kleinasiatischen und der römischen Kirche über den Tag. an welchem
die österliche Abendmahlsfeier zu halten sei. Die Kleinasiaten begingen dieses
Gedächtnißmahl am 14.. an demselben Tag, an welchem die Juden ihr Oster-
lamm aßen, also ganz entsprechend der synoptischen Darstellung. Die römische
Kirche behauptete dagegen, die Christen haben sich an diesen Tag nicht zu binden,
sondern je am folgenden Sonntag, als dem Auferstehungstag, das österliche
Abendmahl zu begehen. Jener Ritus bezeichnet offenbar einen dem Judenthum
noch näher stehenden, dieser einen freieren, von den jüdischen Einrichtungen
losgelösten Standpunkt. Nun ist es nicht wenig überraschend, daß die Klein¬
asiaten sich für ihren der synoptischen Darstellung entsprechenden Ritus aus¬
drücklich und unter feierlichsten Betheurungen auf den Apostel Johannes beriefen,
der mit den andern Jüngern stets an diesem Tag, am 14. das Passah gehalten
habe, -- der Apostel Johannes also ein Zeuge gegen das Evangelium des


nur aus den Verhältnissen einer Zeit erklärlich ist, welche auch über die denkbar
höchste Lebensdauer des Apostels weit hinausgeht.

Es ist schon an sich schwer glaublich, daß ein galiläischer Fischer sich in
seinem hohen Alter in die alexandrinische Religionsphilosophie hineinarbeitete,
daß ein Jünger Jesu, der sein täglicher Genosse war. ihn auf seinen Wan¬
derungen begleitete, von Anfang an Zeuge seines öffentlicken Auftretens war.
daß ein solcher das Leben seines Meisters aus dem Gesichtspunkt einer specula-
tiven Idee zu schreiben unternahm. Aber es kommt dazu, daß der Verfasser
eine Unbet'anntschaft mit jüdischen Orten und Gebräuchen verräth, welche jede
Möglichkeit ausschließt, daß er ein Galiläer war und aus der Erinnerung schrieb.
Niemand außer Johannes weiß z. B. von einem Bethanien am Jordan, kein
jüdischer oder christlicher Schriftsteller erwähnt den heilkräftigen Teich Bethesda,
und wenn der Verfasser zweimal den Kaiaphas als Hohepriester „jenes Jahrs"
bezeichnet, also einen jährlichen Wechsel dieses Amtes voraussetzt, so mußte
dagegen jeder geborene Palästinenser wissen, daß dies ein Irrthum ist. zumal
gerade Kaiaphas zehn Jahre lang hintereinander von 35—36, also während
der ganzen Lehrzeit Jesu dieses Amt bekleidete. ,

Die kirchlichen Streitigkeiten des zweiten Jahrhunderte geben uns noch
einige Daten an die Hand, welche auf das Verhältniß des vierten Evangeliums
zu den Synoptikern ein Licht werfen, das für die Frage der Echtheit des
ersteren geradezu entscheidend ist und auch die Zeit seiner Entstehung näher
beleuchtet. Es ist die Differenz erwähnt worden, welche in Bezug auf den Tag
des letzten Mahls und des Todes Jesu zwischen der synoptischen und der johan-
neischen Darstellung besteht. Nach der ersteren hat Jesus am 14. Nisan mit den
Jüngern das Passahmahl gehalten und ist am 1ö. hingerichtet worden. Nach
dieser dagegen hielt er das letzte Mahl, das kein Passahmahl war, am 13. und
starb am 14. als das Passablamm. Nun entstand um das Jahr 160 ein Streit
zwischen der kleinasiatischen und der römischen Kirche über den Tag. an welchem
die österliche Abendmahlsfeier zu halten sei. Die Kleinasiaten begingen dieses
Gedächtnißmahl am 14.. an demselben Tag, an welchem die Juden ihr Oster-
lamm aßen, also ganz entsprechend der synoptischen Darstellung. Die römische
Kirche behauptete dagegen, die Christen haben sich an diesen Tag nicht zu binden,
sondern je am folgenden Sonntag, als dem Auferstehungstag, das österliche
Abendmahl zu begehen. Jener Ritus bezeichnet offenbar einen dem Judenthum
noch näher stehenden, dieser einen freieren, von den jüdischen Einrichtungen
losgelösten Standpunkt. Nun ist es nicht wenig überraschend, daß die Klein¬
asiaten sich für ihren der synoptischen Darstellung entsprechenden Ritus aus¬
drücklich und unter feierlichsten Betheurungen auf den Apostel Johannes beriefen,
der mit den andern Jüngern stets an diesem Tag, am 14. das Passah gehalten
habe, — der Apostel Johannes also ein Zeuge gegen das Evangelium des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/396>, abgerufen am 23.07.2024.