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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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herrschenden judcnchristlichcn Richtung erscheint; selbst das Zeichen der hohe-
priesterlichcn Würde soll er getrogen haben, ein Beweis, daß er im Christen¬
thum nur das wahre Judenthum verwirklicht sah. Insbesondere wird die in
Kleinasien vornehmlich ausgebildete Lehre vom tausendjährigen Reich, gleichfalls
ein Nest des Judenthums auf christlichem Boden, mit dem Namen des Johan¬
nes verknüpft. Das paulinische Christenthum erscheint am Ende des zweiten
Jahrhunderts in diesen Gemeinden, die Paulus gestiftet, völlig verdrängt, so
daß selbst dessen Name vergessen ist, während dagegen eben hier die Gestalt
des Johannes, des Sehers vom tausendjährigen Reich, in immer neuen Sagen
verherrlicht fortlebt.

Mit dieser geschichtlichen Ueberlieferung stimmt es nun durchaus, daß die
ältesten Zeugnisse den Apostel Johannes als Verfasser der Offenbarung bezeich¬
nen. Diese judcnchristliche Vision, diese zorneseifnge Prophctenschrift, getränkt
vom Hasse gegen das Heidenthum, voll Opposition gegen das Hcidenchristcn-
thum, paßt durchaus zu dem Bild", das uns geschichtlich von dem Sohn des
Zebedäus überliefert ist. Nirgends gehen die äußeren Zeugnisse und die inneren
Gründe so Hand in Hand, um uns ein sicheres Urtheil über die Echtheit einer
Schrift zu erlauben, als bei der Offenbarung, dem Werke des Apostels Johannes.
Aber dieselben Gründe, welche ihm die Autorschaft der Offenbarung zuweisen,
machen seine Autorschaft des Evangeliums undenkbar. Hat Johannes im Jahre 68 --
denn diese Zeit ergiebt sich aus ihrem Inhalt -- die Offenbarung in einem Alter
von mindestens 60 Jahren geschrieben, so kann er nicht zugleich Verfasser des
Evangeliums sein. Wie können überhaupt aus einer und derselben Feder zwei
Werke geflossen sein, welche einen so radicalen Gegensatz bilden, welche die bei¬
den Pole der urchristlicher Entwicklung, Anfang und Abschluß derselben be¬
zeichnen: die Offenbarung, der Jerusalem die heilige Gottesstadt ist. und das
Evangelium, dessen Jesus gekommen ist, den alttestamentlichen Tempel abzu-
brechen, die Offenbarung, welche das Antichristenthum im Heidenthum verkör¬
pert sieht, und das Evangelium, welches die schwärzesten Schatten auf das un¬
gläubige Judenthum wirft, die Offenbarung, der das Christenthum nur ein
messiasgläubigcs Judenthum ist, und das Evangelium, das in seiner specula-
tiven Auffassung der christlichen Idee sich hoch und frei über alle Gegensätze
des Judenthums und Heidenthums stellt, die Offenbarung des. Hasses und das
Evangelium der Liebe!

Aber ist es nicht dennoch denkbar, daß der Apostel Johannes, der nach
der Tradition ein sehr hohes Alter erreichte, noch spät unter Einwirkung philo¬
sophischer Zeitideen einen außerordentlichen inneren Umschwung seines Bewußt¬
seins erfuhr, der aus dem Verfasser der Zornesoffenbarung den Verfasser des
Licbcscvangcliums machte? Die Antwort ist, daß überhaupt kein Galiläer das
vierte Evangelium geschrieben haben kann, und daß die Entstehung desselben


herrschenden judcnchristlichcn Richtung erscheint; selbst das Zeichen der hohe-
priesterlichcn Würde soll er getrogen haben, ein Beweis, daß er im Christen¬
thum nur das wahre Judenthum verwirklicht sah. Insbesondere wird die in
Kleinasien vornehmlich ausgebildete Lehre vom tausendjährigen Reich, gleichfalls
ein Nest des Judenthums auf christlichem Boden, mit dem Namen des Johan¬
nes verknüpft. Das paulinische Christenthum erscheint am Ende des zweiten
Jahrhunderts in diesen Gemeinden, die Paulus gestiftet, völlig verdrängt, so
daß selbst dessen Name vergessen ist, während dagegen eben hier die Gestalt
des Johannes, des Sehers vom tausendjährigen Reich, in immer neuen Sagen
verherrlicht fortlebt.

Mit dieser geschichtlichen Ueberlieferung stimmt es nun durchaus, daß die
ältesten Zeugnisse den Apostel Johannes als Verfasser der Offenbarung bezeich¬
nen. Diese judcnchristliche Vision, diese zorneseifnge Prophctenschrift, getränkt
vom Hasse gegen das Heidenthum, voll Opposition gegen das Hcidenchristcn-
thum, paßt durchaus zu dem Bild", das uns geschichtlich von dem Sohn des
Zebedäus überliefert ist. Nirgends gehen die äußeren Zeugnisse und die inneren
Gründe so Hand in Hand, um uns ein sicheres Urtheil über die Echtheit einer
Schrift zu erlauben, als bei der Offenbarung, dem Werke des Apostels Johannes.
Aber dieselben Gründe, welche ihm die Autorschaft der Offenbarung zuweisen,
machen seine Autorschaft des Evangeliums undenkbar. Hat Johannes im Jahre 68 —
denn diese Zeit ergiebt sich aus ihrem Inhalt — die Offenbarung in einem Alter
von mindestens 60 Jahren geschrieben, so kann er nicht zugleich Verfasser des
Evangeliums sein. Wie können überhaupt aus einer und derselben Feder zwei
Werke geflossen sein, welche einen so radicalen Gegensatz bilden, welche die bei¬
den Pole der urchristlicher Entwicklung, Anfang und Abschluß derselben be¬
zeichnen: die Offenbarung, der Jerusalem die heilige Gottesstadt ist. und das
Evangelium, dessen Jesus gekommen ist, den alttestamentlichen Tempel abzu-
brechen, die Offenbarung, welche das Antichristenthum im Heidenthum verkör¬
pert sieht, und das Evangelium, welches die schwärzesten Schatten auf das un¬
gläubige Judenthum wirft, die Offenbarung, der das Christenthum nur ein
messiasgläubigcs Judenthum ist, und das Evangelium, das in seiner specula-
tiven Auffassung der christlichen Idee sich hoch und frei über alle Gegensätze
des Judenthums und Heidenthums stellt, die Offenbarung des. Hasses und das
Evangelium der Liebe!

Aber ist es nicht dennoch denkbar, daß der Apostel Johannes, der nach
der Tradition ein sehr hohes Alter erreichte, noch spät unter Einwirkung philo¬
sophischer Zeitideen einen außerordentlichen inneren Umschwung seines Bewußt¬
seins erfuhr, der aus dem Verfasser der Zornesoffenbarung den Verfasser des
Licbcscvangcliums machte? Die Antwort ist, daß überhaupt kein Galiläer das
vierte Evangelium geschrieben haben kann, und daß die Entstehung desselben


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[0395] herrschenden judcnchristlichcn Richtung erscheint; selbst das Zeichen der hohe- priesterlichcn Würde soll er getrogen haben, ein Beweis, daß er im Christen¬ thum nur das wahre Judenthum verwirklicht sah. Insbesondere wird die in Kleinasien vornehmlich ausgebildete Lehre vom tausendjährigen Reich, gleichfalls ein Nest des Judenthums auf christlichem Boden, mit dem Namen des Johan¬ nes verknüpft. Das paulinische Christenthum erscheint am Ende des zweiten Jahrhunderts in diesen Gemeinden, die Paulus gestiftet, völlig verdrängt, so daß selbst dessen Name vergessen ist, während dagegen eben hier die Gestalt des Johannes, des Sehers vom tausendjährigen Reich, in immer neuen Sagen verherrlicht fortlebt. Mit dieser geschichtlichen Ueberlieferung stimmt es nun durchaus, daß die ältesten Zeugnisse den Apostel Johannes als Verfasser der Offenbarung bezeich¬ nen. Diese judcnchristliche Vision, diese zorneseifnge Prophctenschrift, getränkt vom Hasse gegen das Heidenthum, voll Opposition gegen das Hcidenchristcn- thum, paßt durchaus zu dem Bild", das uns geschichtlich von dem Sohn des Zebedäus überliefert ist. Nirgends gehen die äußeren Zeugnisse und die inneren Gründe so Hand in Hand, um uns ein sicheres Urtheil über die Echtheit einer Schrift zu erlauben, als bei der Offenbarung, dem Werke des Apostels Johannes. Aber dieselben Gründe, welche ihm die Autorschaft der Offenbarung zuweisen, machen seine Autorschaft des Evangeliums undenkbar. Hat Johannes im Jahre 68 — denn diese Zeit ergiebt sich aus ihrem Inhalt — die Offenbarung in einem Alter von mindestens 60 Jahren geschrieben, so kann er nicht zugleich Verfasser des Evangeliums sein. Wie können überhaupt aus einer und derselben Feder zwei Werke geflossen sein, welche einen so radicalen Gegensatz bilden, welche die bei¬ den Pole der urchristlicher Entwicklung, Anfang und Abschluß derselben be¬ zeichnen: die Offenbarung, der Jerusalem die heilige Gottesstadt ist. und das Evangelium, dessen Jesus gekommen ist, den alttestamentlichen Tempel abzu- brechen, die Offenbarung, welche das Antichristenthum im Heidenthum verkör¬ pert sieht, und das Evangelium, welches die schwärzesten Schatten auf das un¬ gläubige Judenthum wirft, die Offenbarung, der das Christenthum nur ein messiasgläubigcs Judenthum ist, und das Evangelium, das in seiner specula- tiven Auffassung der christlichen Idee sich hoch und frei über alle Gegensätze des Judenthums und Heidenthums stellt, die Offenbarung des. Hasses und das Evangelium der Liebe! Aber ist es nicht dennoch denkbar, daß der Apostel Johannes, der nach der Tradition ein sehr hohes Alter erreichte, noch spät unter Einwirkung philo¬ sophischer Zeitideen einen außerordentlichen inneren Umschwung seines Bewußt¬ seins erfuhr, der aus dem Verfasser der Zornesoffenbarung den Verfasser des Licbcscvangcliums machte? Die Antwort ist, daß überhaupt kein Galiläer das vierte Evangelium geschrieben haben kann, und daß die Entstehung desselben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/395>, abgerufen am 23.07.2024.