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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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lation hob ihn auf eine Höhe der Betrachtung, auf welcher die gegenseitigen
Ansprüche und Anklagen der Juden- und Heidenwelt und damit auch der Ju¬
den- und Heidenchristen verschwanden. Juden - und Heidenthum zusammen bilden
nun das Dunkel, das durch das Erscheinen des Logos zum Lichte sich ausheilen
soll; hinausgehoben über alles Zufällige, als ein Moment des allgemeinen
weltgeschichtlichen Processes begriffen, so erst hatte das Christenthum seinen
festen Standort, das Recht einer selbständigen Existenz. Dieselbe Speculation
endlich ließ den weitblickenden Verfasser mit dem Ende des Tempeldienstes zu
Jerusalem auch das Ende alles äußerlichen Gottesdienstes überhaupt im Geiste
vorausschauen. Ein Gottesdienst, beruhend auf reiner Erkenntniß des Gött¬
lichen und ausgeübt in Liebe, eine geistige Gottesverehrung ohne Tempel und
Gebräuche, ohne Buchstaben und Satzungen -- dies war sein höchster Gedanke,
mit welchem sein prophetischer Geist um Jahrtausende der wirklichen Entwick¬
lung des Christenthums vorauseilte.

Und nun vergegenwärtige man sich noch einmal den Charakter dieses
Evangeliums, den idealen Gesichtspunkt, den es durchzuführen sucht, seine
philosophischen Motive, sein Verhältniß zu der synoptischen Erzählung, seine
Stellung zum Judenthum, und halte dann damit die Tradition der katho¬
lischen Kirche zusammen, daß der Apostel Johannes der Verfasser dieses Evan¬
geliums sei.

Was wissen wir von dem Jünger Johannes, dem Sohne des Zcbcdäus?
Nebst seinem Bruder erhält er von Jesus den Beinamen Donnersohn, offen¬
bar eine Bezeichnung feurigen ungestümen Wesens, und als solche erscheinen
auch beide in dem Verlangen, das sie an Jesus stellen. Feuer auf einen un¬
gastlichen Ort in Snmaria herabregncn zu lassen. Durch ihre Mutter lassen
sie sich von Jesus die Ehrenplätze im messianischen Reich zur Rechten und Lin¬
ken des Herrn ausbitten, ein Beweis, welche jüdische, ungeistige Auffassung sie
damals noch vom Reich Gottes hatten. Anstatt daß wir nun von einer Um¬
wandlung Kunde hätten, bestätigen vielmehr die paulinischen Briefe durchaus
dieses Charakterbild, mit welchem der sanfte Lieblingsjünger des vierten Evan¬
geliums so wenig gemein hat. Johannes gehört zu den Säulenaposteln, zu
den Häuptern des Judenchristcnthums. Fünfundzwanzig Jahre nach dein Tode
Jesu verlangt er zu Jerusalem mit Petrus und Jacobus die Beschneidung des
hcidcnchristlichen Titus. welche Paulus verweigert. Er theilt die Ansicht, daß
wenn anch dem Paulus die Mission unter den Heiden gestattet sein soll, doch
sie, die Urapostel, die Apostel der Beschneidung, keinen Beruf hätten, das
Evangelium unter den Heiden zu verkünden. Später siedelt er nach Ephesus
über und wirkt auch dort im antipaulinischen Sinne. Die kleinasiatische Tra¬
dition, welche eine Fülle von Erinnerungen an ihn bewahrte, schildert'ihn
durchaus so. daß er als Vertreter und Haupt der in der kleinasiatischen Kirche


lation hob ihn auf eine Höhe der Betrachtung, auf welcher die gegenseitigen
Ansprüche und Anklagen der Juden- und Heidenwelt und damit auch der Ju¬
den- und Heidenchristen verschwanden. Juden - und Heidenthum zusammen bilden
nun das Dunkel, das durch das Erscheinen des Logos zum Lichte sich ausheilen
soll; hinausgehoben über alles Zufällige, als ein Moment des allgemeinen
weltgeschichtlichen Processes begriffen, so erst hatte das Christenthum seinen
festen Standort, das Recht einer selbständigen Existenz. Dieselbe Speculation
endlich ließ den weitblickenden Verfasser mit dem Ende des Tempeldienstes zu
Jerusalem auch das Ende alles äußerlichen Gottesdienstes überhaupt im Geiste
vorausschauen. Ein Gottesdienst, beruhend auf reiner Erkenntniß des Gött¬
lichen und ausgeübt in Liebe, eine geistige Gottesverehrung ohne Tempel und
Gebräuche, ohne Buchstaben und Satzungen — dies war sein höchster Gedanke,
mit welchem sein prophetischer Geist um Jahrtausende der wirklichen Entwick¬
lung des Christenthums vorauseilte.

Und nun vergegenwärtige man sich noch einmal den Charakter dieses
Evangeliums, den idealen Gesichtspunkt, den es durchzuführen sucht, seine
philosophischen Motive, sein Verhältniß zu der synoptischen Erzählung, seine
Stellung zum Judenthum, und halte dann damit die Tradition der katho¬
lischen Kirche zusammen, daß der Apostel Johannes der Verfasser dieses Evan¬
geliums sei.

Was wissen wir von dem Jünger Johannes, dem Sohne des Zcbcdäus?
Nebst seinem Bruder erhält er von Jesus den Beinamen Donnersohn, offen¬
bar eine Bezeichnung feurigen ungestümen Wesens, und als solche erscheinen
auch beide in dem Verlangen, das sie an Jesus stellen. Feuer auf einen un¬
gastlichen Ort in Snmaria herabregncn zu lassen. Durch ihre Mutter lassen
sie sich von Jesus die Ehrenplätze im messianischen Reich zur Rechten und Lin¬
ken des Herrn ausbitten, ein Beweis, welche jüdische, ungeistige Auffassung sie
damals noch vom Reich Gottes hatten. Anstatt daß wir nun von einer Um¬
wandlung Kunde hätten, bestätigen vielmehr die paulinischen Briefe durchaus
dieses Charakterbild, mit welchem der sanfte Lieblingsjünger des vierten Evan¬
geliums so wenig gemein hat. Johannes gehört zu den Säulenaposteln, zu
den Häuptern des Judenchristcnthums. Fünfundzwanzig Jahre nach dein Tode
Jesu verlangt er zu Jerusalem mit Petrus und Jacobus die Beschneidung des
hcidcnchristlichen Titus. welche Paulus verweigert. Er theilt die Ansicht, daß
wenn anch dem Paulus die Mission unter den Heiden gestattet sein soll, doch
sie, die Urapostel, die Apostel der Beschneidung, keinen Beruf hätten, das
Evangelium unter den Heiden zu verkünden. Später siedelt er nach Ephesus
über und wirkt auch dort im antipaulinischen Sinne. Die kleinasiatische Tra¬
dition, welche eine Fülle von Erinnerungen an ihn bewahrte, schildert'ihn
durchaus so. daß er als Vertreter und Haupt der in der kleinasiatischen Kirche


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[0394] lation hob ihn auf eine Höhe der Betrachtung, auf welcher die gegenseitigen Ansprüche und Anklagen der Juden- und Heidenwelt und damit auch der Ju¬ den- und Heidenchristen verschwanden. Juden - und Heidenthum zusammen bilden nun das Dunkel, das durch das Erscheinen des Logos zum Lichte sich ausheilen soll; hinausgehoben über alles Zufällige, als ein Moment des allgemeinen weltgeschichtlichen Processes begriffen, so erst hatte das Christenthum seinen festen Standort, das Recht einer selbständigen Existenz. Dieselbe Speculation endlich ließ den weitblickenden Verfasser mit dem Ende des Tempeldienstes zu Jerusalem auch das Ende alles äußerlichen Gottesdienstes überhaupt im Geiste vorausschauen. Ein Gottesdienst, beruhend auf reiner Erkenntniß des Gött¬ lichen und ausgeübt in Liebe, eine geistige Gottesverehrung ohne Tempel und Gebräuche, ohne Buchstaben und Satzungen — dies war sein höchster Gedanke, mit welchem sein prophetischer Geist um Jahrtausende der wirklichen Entwick¬ lung des Christenthums vorauseilte. Und nun vergegenwärtige man sich noch einmal den Charakter dieses Evangeliums, den idealen Gesichtspunkt, den es durchzuführen sucht, seine philosophischen Motive, sein Verhältniß zu der synoptischen Erzählung, seine Stellung zum Judenthum, und halte dann damit die Tradition der katho¬ lischen Kirche zusammen, daß der Apostel Johannes der Verfasser dieses Evan¬ geliums sei. Was wissen wir von dem Jünger Johannes, dem Sohne des Zcbcdäus? Nebst seinem Bruder erhält er von Jesus den Beinamen Donnersohn, offen¬ bar eine Bezeichnung feurigen ungestümen Wesens, und als solche erscheinen auch beide in dem Verlangen, das sie an Jesus stellen. Feuer auf einen un¬ gastlichen Ort in Snmaria herabregncn zu lassen. Durch ihre Mutter lassen sie sich von Jesus die Ehrenplätze im messianischen Reich zur Rechten und Lin¬ ken des Herrn ausbitten, ein Beweis, welche jüdische, ungeistige Auffassung sie damals noch vom Reich Gottes hatten. Anstatt daß wir nun von einer Um¬ wandlung Kunde hätten, bestätigen vielmehr die paulinischen Briefe durchaus dieses Charakterbild, mit welchem der sanfte Lieblingsjünger des vierten Evan¬ geliums so wenig gemein hat. Johannes gehört zu den Säulenaposteln, zu den Häuptern des Judenchristcnthums. Fünfundzwanzig Jahre nach dein Tode Jesu verlangt er zu Jerusalem mit Petrus und Jacobus die Beschneidung des hcidcnchristlichen Titus. welche Paulus verweigert. Er theilt die Ansicht, daß wenn anch dem Paulus die Mission unter den Heiden gestattet sein soll, doch sie, die Urapostel, die Apostel der Beschneidung, keinen Beruf hätten, das Evangelium unter den Heiden zu verkünden. Später siedelt er nach Ephesus über und wirkt auch dort im antipaulinischen Sinne. Die kleinasiatische Tra¬ dition, welche eine Fülle von Erinnerungen an ihn bewahrte, schildert'ihn durchaus so. daß er als Vertreter und Haupt der in der kleinasiatischen Kirche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/394>, abgerufen am 23.07.2024.