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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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.Evangelist kennt. Alles was zur Erfüllung des alten Testaments an Jesus
geschehen sollte, ist jetzt vollendet, das alte Testament hat seine Bestimmung
erreicht, der Tod Jesu ist der Wendepunkt vom jüdischen zum christlichen Be¬
wußtsein. Das Alte ist vergangen, das Neue ist zum Dasein gekommen.

Dies führt uns noch auf die Stellung des Verfassers zur alttestamentlichen
Religion. Wir sehen, auch ihm ist der neue Bund die Erfüllung des alten.
Aber gleichwohl steht keine Schrift des neuen Testaments so frei, ja im Grunde
so gegensätzlich dem mosaischen Gesetz gegenüber als das Johannesevangelium.
Es gehört bereits einer fortgeschrittenen Entwicklung des christlichen Bewußt¬
seins an, der Bruch mit dem Judenthum ist vollzogen, das Christenthum steht
auf seinen eigenen Füßen. Auch der Paulinismus ist eine überholte Phase,
die Kämpfe zwischen Judenchristen und Heidenchristen liegen schon in weiter Ferne.
Das Heidenchristenthum hat nicht erst sein Recht zu erkämpfen, sondern es ist
vollendete Thatsache, und die andere Thatsache ist. daß das Judenthum in sei¬
ner Mehrzahl Jesus verworfen hat. Hier hat der Unglaube seinen Sitz. Die
Macht der Finsterniß ist eben das ungläubige Judenthum, zu dem das gläu¬
bige Heidenthum den schärfsten Gegensatz bildet. Vom Gesetz spricht Jesus wie
von etwas völlig Fremdem, das ihn nichts mehr angeht. Die gesetzlichen Feste
sind ihm blos Feste der Juden, seine Gegner heißen schlechtweg die Juden.
Alle die vor ihm gewesen, sind Mörder und Diebe, die Träger der jüdischen Theo-
kratie heißen Kinder des Teufels; Moses hat das wahre Manna nicht vom Him¬
mel geholt, Abrahams höchster Ruhmestitel ist, daß er den Sohn gesehen hat,
und das Haupt des jerusalemischen Judenchristcnthums, Petrus, wird geflissent¬
lich und durch einen fein angelegten Plan aus der hohen Stellung, die ihm
die Synoptiker anweisen, verdrängt. Dem alttestamentlichen Gesetz steht die
Lehre Jesu in unve"kennbaren Gegensatz gegenüber. Nicht das Gesetz, sondern
seine Gebote sollen gehalten werden. Das neue Gebot ist ein Gebot der
Liebe, nicht der Furcht. Der Geist der Wahrheit, als der Geist Jesu, nicht
das Gesetz soll die neue Gemeinde leiten. Die Anbetung Gottes ist nicht mehr
an den Tempel, überhaupt nicht mehr an äußerliche Räume oder äußerliche
Gebräuche gebunden: sie geschieht hinfort im Geist und in der Wahrheit; der
Buchstabe tödtet, der Geist aber macht lebendig. -- Es spricht sich in dieser
Anschauung ein geistig freier Standpunkt aus, wie er in solcher Reinheit uns
aus keiner andern neutestamentlichen Schrift entgegentritt. In der Schule
philosophischer Speculation hatte sich der Verfasser diese geistige Freiheit er¬
worben. Mit den alexandrinischen griechisch-jüdischen Systemen wohl vertraut,
hatte, er in der dort vorgetragenen philosophischen Lehre vom Logos, als der
Selbstoffenbarung Gottes, den höchsten und bezeichnendsten Ausdruck für die
Bedeutung Jesu gefunden und so die schon vom Hebräer - und Kolosserbrief ange¬
bahnte Uebertragung des Logosbcgnffs auf Jesus vollendet. Dieselbe Specu-


Grenzboten II. 1864, 49

.Evangelist kennt. Alles was zur Erfüllung des alten Testaments an Jesus
geschehen sollte, ist jetzt vollendet, das alte Testament hat seine Bestimmung
erreicht, der Tod Jesu ist der Wendepunkt vom jüdischen zum christlichen Be¬
wußtsein. Das Alte ist vergangen, das Neue ist zum Dasein gekommen.

Dies führt uns noch auf die Stellung des Verfassers zur alttestamentlichen
Religion. Wir sehen, auch ihm ist der neue Bund die Erfüllung des alten.
Aber gleichwohl steht keine Schrift des neuen Testaments so frei, ja im Grunde
so gegensätzlich dem mosaischen Gesetz gegenüber als das Johannesevangelium.
Es gehört bereits einer fortgeschrittenen Entwicklung des christlichen Bewußt¬
seins an, der Bruch mit dem Judenthum ist vollzogen, das Christenthum steht
auf seinen eigenen Füßen. Auch der Paulinismus ist eine überholte Phase,
die Kämpfe zwischen Judenchristen und Heidenchristen liegen schon in weiter Ferne.
Das Heidenchristenthum hat nicht erst sein Recht zu erkämpfen, sondern es ist
vollendete Thatsache, und die andere Thatsache ist. daß das Judenthum in sei¬
ner Mehrzahl Jesus verworfen hat. Hier hat der Unglaube seinen Sitz. Die
Macht der Finsterniß ist eben das ungläubige Judenthum, zu dem das gläu¬
bige Heidenthum den schärfsten Gegensatz bildet. Vom Gesetz spricht Jesus wie
von etwas völlig Fremdem, das ihn nichts mehr angeht. Die gesetzlichen Feste
sind ihm blos Feste der Juden, seine Gegner heißen schlechtweg die Juden.
Alle die vor ihm gewesen, sind Mörder und Diebe, die Träger der jüdischen Theo-
kratie heißen Kinder des Teufels; Moses hat das wahre Manna nicht vom Him¬
mel geholt, Abrahams höchster Ruhmestitel ist, daß er den Sohn gesehen hat,
und das Haupt des jerusalemischen Judenchristcnthums, Petrus, wird geflissent¬
lich und durch einen fein angelegten Plan aus der hohen Stellung, die ihm
die Synoptiker anweisen, verdrängt. Dem alttestamentlichen Gesetz steht die
Lehre Jesu in unve»kennbaren Gegensatz gegenüber. Nicht das Gesetz, sondern
seine Gebote sollen gehalten werden. Das neue Gebot ist ein Gebot der
Liebe, nicht der Furcht. Der Geist der Wahrheit, als der Geist Jesu, nicht
das Gesetz soll die neue Gemeinde leiten. Die Anbetung Gottes ist nicht mehr
an den Tempel, überhaupt nicht mehr an äußerliche Räume oder äußerliche
Gebräuche gebunden: sie geschieht hinfort im Geist und in der Wahrheit; der
Buchstabe tödtet, der Geist aber macht lebendig. — Es spricht sich in dieser
Anschauung ein geistig freier Standpunkt aus, wie er in solcher Reinheit uns
aus keiner andern neutestamentlichen Schrift entgegentritt. In der Schule
philosophischer Speculation hatte sich der Verfasser diese geistige Freiheit er¬
worben. Mit den alexandrinischen griechisch-jüdischen Systemen wohl vertraut,
hatte, er in der dort vorgetragenen philosophischen Lehre vom Logos, als der
Selbstoffenbarung Gottes, den höchsten und bezeichnendsten Ausdruck für die
Bedeutung Jesu gefunden und so die schon vom Hebräer - und Kolosserbrief ange¬
bahnte Uebertragung des Logosbcgnffs auf Jesus vollendet. Dieselbe Specu-


Grenzboten II. 1864, 49
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/393>, abgerufen am 23.07.2024.