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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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fang an und wiederholt in Judäa und Jerusalem auf. Hier kann nur entweder
das Eine oder das Andere historisch sein: entweder die synoptische Darstellung
ist richtig oder umgekehrt. Jedes Bemühen, beide Berichte in einander zu
schieben, scheitert schon daran, daß Johannes für den wiederholten Aufenthalt
Jesu in Jerusalem keinen selbständigen Inhalt hat, wie man doch erwarten
müßte, wenn die Synoptiker diese Reisen nur irrtümlicherweise ausgelassen
hätten. Vielmehr füllt er ihn zum größten Theil mit denselben Erzählungen
aus, welche die Synoptiker an anderen Orten und zu anderen Zeiten haben.
Er ist also von der synoptischen Darstellung abhängig und ändert sie doch in
einem wesentlichen Punkt ab. Was ist der Grund? Auch hier läßt sich das
Interesse des vierten Evangelisten leicht nachweisen, es hängt gleichfalls eng
mit dem idealen Gesichtspunkt zusammen, unter welchen bei ihm überhaupt der
geschichtliche Stoff gestellt ist. War es die Mission Jesu, als das Licht in die
Finsterniß zu scheinen, war er von Anfang an, der er war, so mußte er sofort
da auftreten, wo die Macht der Finsterniß concentrirt war, zu Jerusalem, dem
Sitz, und Centralpunkt des ungläubigen Judenthums. Darum bricht denn auch
gleich bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Unglauben der Conflict mit
solcher Heftigkeit aus, daß es nur Wunder nimmt, wenn die Katastrophe nicht
sogleich erfolgt. Es ist kein allmäliges Reifen des Schicksals, welchem Jesus
endlich erliegt, die ^Katastrophe entwickelt sich eigentlich gar nicht, der Erzähler
steht sich fortwährend genöthigt zu retardiren, und er selbst fühlt das Mißliche
dieses Verfahrens wohl, es klingt wie eine Entschuldigung, wenn er wiederholt
bemerkt, der Hauptschlag gegen Jesus sei nur deshalb noch nicht geführt wor¬
den, "weil die Stunde des Herrn noch nicht gekommen sei". An diesem Orte
greift nun die Auferweckung des Lazarus in den Plan des Evangeliums ein.
Dieses Wunder steigert reinlich die Erbitterung der Juden derart, daß es die
nächste Veranlassung zur Gefangennehmung Jesu wird. Die drei ersten Evan¬
gelien wissen bekanntlich kein Wort von diesem Wunder, wie sie überhaupt von
einem Lazarus nichts wissen, ein Name, der blos ein einziges Mal und nicht
als Träger einer wirklichen Persönlichkeit, sondern nur in einer Glcichnißrede
-v)esu bei Lucas genannt wird. Ist es nun völlig unbegreiflich, daß die drei
ersten Evangelisten, wenn ein so hervorragendes Ereignis; wirklich vorgefallen
war. das noch dazu so bedeutende Folgen hatte, dasselbe mit Stillschweigen
übergangen hätten, ist also die geschichtliche Glaubwürdigkeit des Hergangs schon
aus diesem Grunde höchst zweifelhaft,-- noch abgesehen von allen inneren Schwie¬
rigkeiten, die sich gerade bei dieser Wundergeschichte besonders häufen,-- so ist
es dagegen um so begreiflicher, wie der vierte Evangelist gerade an dieser Stelle
ein Wunder einschob, das die Wundernacht Jesu auf ihrer höchsten Potenz zeigte.
Bei den Synoptikern ist die Wendung zur Katastrophe ganz natürlich motivirt.
Wenn die Reise, welche sie Jesus nach Jerusalem unternehmen lassen, die


fang an und wiederholt in Judäa und Jerusalem auf. Hier kann nur entweder
das Eine oder das Andere historisch sein: entweder die synoptische Darstellung
ist richtig oder umgekehrt. Jedes Bemühen, beide Berichte in einander zu
schieben, scheitert schon daran, daß Johannes für den wiederholten Aufenthalt
Jesu in Jerusalem keinen selbständigen Inhalt hat, wie man doch erwarten
müßte, wenn die Synoptiker diese Reisen nur irrtümlicherweise ausgelassen
hätten. Vielmehr füllt er ihn zum größten Theil mit denselben Erzählungen
aus, welche die Synoptiker an anderen Orten und zu anderen Zeiten haben.
Er ist also von der synoptischen Darstellung abhängig und ändert sie doch in
einem wesentlichen Punkt ab. Was ist der Grund? Auch hier läßt sich das
Interesse des vierten Evangelisten leicht nachweisen, es hängt gleichfalls eng
mit dem idealen Gesichtspunkt zusammen, unter welchen bei ihm überhaupt der
geschichtliche Stoff gestellt ist. War es die Mission Jesu, als das Licht in die
Finsterniß zu scheinen, war er von Anfang an, der er war, so mußte er sofort
da auftreten, wo die Macht der Finsterniß concentrirt war, zu Jerusalem, dem
Sitz, und Centralpunkt des ungläubigen Judenthums. Darum bricht denn auch
gleich bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Unglauben der Conflict mit
solcher Heftigkeit aus, daß es nur Wunder nimmt, wenn die Katastrophe nicht
sogleich erfolgt. Es ist kein allmäliges Reifen des Schicksals, welchem Jesus
endlich erliegt, die ^Katastrophe entwickelt sich eigentlich gar nicht, der Erzähler
steht sich fortwährend genöthigt zu retardiren, und er selbst fühlt das Mißliche
dieses Verfahrens wohl, es klingt wie eine Entschuldigung, wenn er wiederholt
bemerkt, der Hauptschlag gegen Jesus sei nur deshalb noch nicht geführt wor¬
den, „weil die Stunde des Herrn noch nicht gekommen sei". An diesem Orte
greift nun die Auferweckung des Lazarus in den Plan des Evangeliums ein.
Dieses Wunder steigert reinlich die Erbitterung der Juden derart, daß es die
nächste Veranlassung zur Gefangennehmung Jesu wird. Die drei ersten Evan¬
gelien wissen bekanntlich kein Wort von diesem Wunder, wie sie überhaupt von
einem Lazarus nichts wissen, ein Name, der blos ein einziges Mal und nicht
als Träger einer wirklichen Persönlichkeit, sondern nur in einer Glcichnißrede
-v)esu bei Lucas genannt wird. Ist es nun völlig unbegreiflich, daß die drei
ersten Evangelisten, wenn ein so hervorragendes Ereignis; wirklich vorgefallen
war. das noch dazu so bedeutende Folgen hatte, dasselbe mit Stillschweigen
übergangen hätten, ist also die geschichtliche Glaubwürdigkeit des Hergangs schon
aus diesem Grunde höchst zweifelhaft,— noch abgesehen von allen inneren Schwie¬
rigkeiten, die sich gerade bei dieser Wundergeschichte besonders häufen,— so ist
es dagegen um so begreiflicher, wie der vierte Evangelist gerade an dieser Stelle
ein Wunder einschob, das die Wundernacht Jesu auf ihrer höchsten Potenz zeigte.
Bei den Synoptikern ist die Wendung zur Katastrophe ganz natürlich motivirt.
Wenn die Reise, welche sie Jesus nach Jerusalem unternehmen lassen, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/391>, abgerufen am 23.07.2024.