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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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dos Himmels, womit erst seiner Messianitcit das vvllgiltige Siegel aufgedrückt
werden sollte. Erst als mit dieser Erwartung eine immer größere Frist ver¬
floß und das Wiederkommen des Messias geistig gedeutet wurde -- eine Um¬
wandlung, welche sich in einigen neutestamentlichen Schriften deutlich verfolgen
läßt -- kam man dazu, sich auf das'Diesseits zu besinnen, wieder nach rück¬
wärts zu blicken und das inzwischen undeutlich gewordene, sagenhaft aus¬
geschmückte Bild von dem irdischen Leben Jesu durch die Schrift zu fixiren.
Und erst als infolge des Kampfes zwischen dem Paulinismus und dem Urchristen¬
tum das Band lockerer wurde, welches Christenthum und Judenthum bis
dahin verknüpfte, empfand man das Bedürfniß neuer Lehrschriften, welche das
Bewußtsein der neuen Kirche aussprachen und eine Reihe fortlaufender Docu-
mente für die allmälige Entwickelung der katholischen Lehre bilden.

Wenn wir die Spuren der urchristlicher Literatur, so weit es möglich ist,
von ihrer späteren Fizirung im Kanon nach rückwärts verfolgen, so ist das
letzte, also älteste Zeugniß, auf welches wir stoßen, die Mittheilungen, welche
Eusebius in seiner Kirchengeschichte über jenen Papias macht, der in der ersten
Hälfte drs zweiten Jahrhunderts Bischof von Hierapolis war und einer schroff
judcnchristlichcn Richtung angehörte, so daß die Zeit des Eusebius über ihn
als einen beschränkten, schwachsinnigen Kopf die Achseln zuckte. Dieser Papias,
der noch el" Hörer des Apostels Johannes gewesen sein soll, erkennt nun zu¬
nächst die Offenbarung desselben als eine echte inspirirte Schrift an. Bon Evange¬
lien kennt er das aramäische Hcvräcrevangelium, ferner das Matthäuscvange-
lium "mit verschiedenen Bearbeitungen in der griechischen Sy.räche", endlich ein
Marcnscvangelium, das er aber auf eine Weise beschreibt, daß es unmöglich
unser kanonisches Evangelium sein kann. Die paulinischen Briefe und das
paulinische Lucasevangclium ignorirt er, offenbar weil er als strenger Juden-
christ sie verwirft. Bon der Apostelgeschichte und vom Johannesevangelinm
ebensowenig eine Spur. Dagegen fand Eusebius bei ihm noch den ersten
Johannes- und den ersten Petrusbrief benutzt Der phrygische Bischof kennt
also eine Anzahl apostolischer Schriften, aber bemerkenswert!) ist nun, daß von
einer kanonischen Geltung derselben als Norm des Glaubens und Quelle der
Lehre noch gar keine Rede ist. Im Gegentheil erklär, er ausdrücklich, für seine
"Auslegung der Herrnsprüche", die er in fünf Büchern verfaßte, weit weniger
die Schriften, als die mündliche Ueberlieferung benutzt zu haben. Nicht aus
den Schriften der apostolischen Männer, sondern aus ihren mündlichen Aus¬
sagen, welche er nach den Mittheilungen glaubwürdiger Kirchenaltesicn sorgfältig
zu sammeln beflissen war, schöpfte er seine Aussprüche des Herrn. Dreierlei
also lehrt uns dieses älteste Zeugniß aus der ersten Hälfte des zweiten Jahr¬
hunderts - 1) daß die mündliche Ueberlieferung damals noch in höherer Geltung
stand als die schriftliche Aufzeichnung, 2) daß die Bildung des Kanon damals


dos Himmels, womit erst seiner Messianitcit das vvllgiltige Siegel aufgedrückt
werden sollte. Erst als mit dieser Erwartung eine immer größere Frist ver¬
floß und das Wiederkommen des Messias geistig gedeutet wurde — eine Um¬
wandlung, welche sich in einigen neutestamentlichen Schriften deutlich verfolgen
läßt — kam man dazu, sich auf das'Diesseits zu besinnen, wieder nach rück¬
wärts zu blicken und das inzwischen undeutlich gewordene, sagenhaft aus¬
geschmückte Bild von dem irdischen Leben Jesu durch die Schrift zu fixiren.
Und erst als infolge des Kampfes zwischen dem Paulinismus und dem Urchristen¬
tum das Band lockerer wurde, welches Christenthum und Judenthum bis
dahin verknüpfte, empfand man das Bedürfniß neuer Lehrschriften, welche das
Bewußtsein der neuen Kirche aussprachen und eine Reihe fortlaufender Docu-
mente für die allmälige Entwickelung der katholischen Lehre bilden.

Wenn wir die Spuren der urchristlicher Literatur, so weit es möglich ist,
von ihrer späteren Fizirung im Kanon nach rückwärts verfolgen, so ist das
letzte, also älteste Zeugniß, auf welches wir stoßen, die Mittheilungen, welche
Eusebius in seiner Kirchengeschichte über jenen Papias macht, der in der ersten
Hälfte drs zweiten Jahrhunderts Bischof von Hierapolis war und einer schroff
judcnchristlichcn Richtung angehörte, so daß die Zeit des Eusebius über ihn
als einen beschränkten, schwachsinnigen Kopf die Achseln zuckte. Dieser Papias,
der noch el» Hörer des Apostels Johannes gewesen sein soll, erkennt nun zu¬
nächst die Offenbarung desselben als eine echte inspirirte Schrift an. Bon Evange¬
lien kennt er das aramäische Hcvräcrevangelium, ferner das Matthäuscvange-
lium „mit verschiedenen Bearbeitungen in der griechischen Sy.räche", endlich ein
Marcnscvangelium, das er aber auf eine Weise beschreibt, daß es unmöglich
unser kanonisches Evangelium sein kann. Die paulinischen Briefe und das
paulinische Lucasevangclium ignorirt er, offenbar weil er als strenger Juden-
christ sie verwirft. Bon der Apostelgeschichte und vom Johannesevangelinm
ebensowenig eine Spur. Dagegen fand Eusebius bei ihm noch den ersten
Johannes- und den ersten Petrusbrief benutzt Der phrygische Bischof kennt
also eine Anzahl apostolischer Schriften, aber bemerkenswert!) ist nun, daß von
einer kanonischen Geltung derselben als Norm des Glaubens und Quelle der
Lehre noch gar keine Rede ist. Im Gegentheil erklär, er ausdrücklich, für seine
„Auslegung der Herrnsprüche", die er in fünf Büchern verfaßte, weit weniger
die Schriften, als die mündliche Ueberlieferung benutzt zu haben. Nicht aus
den Schriften der apostolischen Männer, sondern aus ihren mündlichen Aus¬
sagen, welche er nach den Mittheilungen glaubwürdiger Kirchenaltesicn sorgfältig
zu sammeln beflissen war, schöpfte er seine Aussprüche des Herrn. Dreierlei
also lehrt uns dieses älteste Zeugniß aus der ersten Hälfte des zweiten Jahr¬
hunderts - 1) daß die mündliche Ueberlieferung damals noch in höherer Geltung
stand als die schriftliche Aufzeichnung, 2) daß die Bildung des Kanon damals


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[0254] dos Himmels, womit erst seiner Messianitcit das vvllgiltige Siegel aufgedrückt werden sollte. Erst als mit dieser Erwartung eine immer größere Frist ver¬ floß und das Wiederkommen des Messias geistig gedeutet wurde — eine Um¬ wandlung, welche sich in einigen neutestamentlichen Schriften deutlich verfolgen läßt — kam man dazu, sich auf das'Diesseits zu besinnen, wieder nach rück¬ wärts zu blicken und das inzwischen undeutlich gewordene, sagenhaft aus¬ geschmückte Bild von dem irdischen Leben Jesu durch die Schrift zu fixiren. Und erst als infolge des Kampfes zwischen dem Paulinismus und dem Urchristen¬ tum das Band lockerer wurde, welches Christenthum und Judenthum bis dahin verknüpfte, empfand man das Bedürfniß neuer Lehrschriften, welche das Bewußtsein der neuen Kirche aussprachen und eine Reihe fortlaufender Docu- mente für die allmälige Entwickelung der katholischen Lehre bilden. Wenn wir die Spuren der urchristlicher Literatur, so weit es möglich ist, von ihrer späteren Fizirung im Kanon nach rückwärts verfolgen, so ist das letzte, also älteste Zeugniß, auf welches wir stoßen, die Mittheilungen, welche Eusebius in seiner Kirchengeschichte über jenen Papias macht, der in der ersten Hälfte drs zweiten Jahrhunderts Bischof von Hierapolis war und einer schroff judcnchristlichcn Richtung angehörte, so daß die Zeit des Eusebius über ihn als einen beschränkten, schwachsinnigen Kopf die Achseln zuckte. Dieser Papias, der noch el» Hörer des Apostels Johannes gewesen sein soll, erkennt nun zu¬ nächst die Offenbarung desselben als eine echte inspirirte Schrift an. Bon Evange¬ lien kennt er das aramäische Hcvräcrevangelium, ferner das Matthäuscvange- lium „mit verschiedenen Bearbeitungen in der griechischen Sy.räche", endlich ein Marcnscvangelium, das er aber auf eine Weise beschreibt, daß es unmöglich unser kanonisches Evangelium sein kann. Die paulinischen Briefe und das paulinische Lucasevangclium ignorirt er, offenbar weil er als strenger Juden- christ sie verwirft. Bon der Apostelgeschichte und vom Johannesevangelinm ebensowenig eine Spur. Dagegen fand Eusebius bei ihm noch den ersten Johannes- und den ersten Petrusbrief benutzt Der phrygische Bischof kennt also eine Anzahl apostolischer Schriften, aber bemerkenswert!) ist nun, daß von einer kanonischen Geltung derselben als Norm des Glaubens und Quelle der Lehre noch gar keine Rede ist. Im Gegentheil erklär, er ausdrücklich, für seine „Auslegung der Herrnsprüche", die er in fünf Büchern verfaßte, weit weniger die Schriften, als die mündliche Ueberlieferung benutzt zu haben. Nicht aus den Schriften der apostolischen Männer, sondern aus ihren mündlichen Aus¬ sagen, welche er nach den Mittheilungen glaubwürdiger Kirchenaltesicn sorgfältig zu sammeln beflissen war, schöpfte er seine Aussprüche des Herrn. Dreierlei also lehrt uns dieses älteste Zeugniß aus der ersten Hälfte des zweiten Jahr¬ hunderts - 1) daß die mündliche Ueberlieferung damals noch in höherer Geltung stand als die schriftliche Aufzeichnung, 2) daß die Bildung des Kanon damals

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/254>, abgerufen am 28.09.2024.