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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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noch in der ersten Kindheit lag, 3) daß mit der Geschichte des Kanon zugleich
die Kritik des Kanon Hand in Hand geht; denn eine Kritik, wenn auch rein
dogmatische Kritik ist es, wenn der schroffe Jndcnchrist an den längst vor¬
handenen paulinischen Briefen vorübergeht.

Auf die entgegengesetzte, streng paulinische. Seite führt uns die Sammlung
christlicher Schriften, welche dem zu den Gnostikern, einer vielverzweigten
religionöphilvsophischen Richtung, gerechneten Marcion (gegen die Mitte des
zweiten Jahrhunderts) als echt, d. h. als echter Ausdruck des Christenthums,
wie er es verstand, und darum auch apostolischen Ursprungs galten. Marcion
schließt das Matthäus- und das Marcuscvaugelium grundsätzlich aus; er erkennt
nur ein Evangelium an, das des Lucas, aber nicht, ohne auch dieses zuvor
von allen nichtpaulinischcn Stücken gereinigt zu haben. Außerdem besteht sein
Kanon nur noch aus einer Sammlung von zehn paulinischen Schriften. Die
Offenbarung des Johannes verwirft er als Schuft eines judcnchristlichcu Ur-
apostels. Die Apostelgeschichte und die Hirtenbriefe kennt er noch nickt, da
diese erst gegen die marcionitische Gnosis gerichtet sind. Daß er den Hcbräcr-
brief nicht kennt, der ganz in-seiner Richtung gelegen mare, ist ein Beweis,
daß derselbe damals mindestens noch keine Anerkennung und Verbreitung ge¬
funden hatte. Ebenso darf man aus seinem Stillschweigen über das Johanncs-
evangelinm schließen, daß dieses noch nicht vorhanden war, da es sich sonst
noch besser als das des Lucas für seine juristische Auffassung des Christenthums
dargeboten hätte.

Einer der wichtigsten Schriftsteller für die Geschichte des Kanon ist der
Märtyrer Justinus (nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts) von dem uns
noch mehre Schriften erhalten sind. Mit ihm treten nur wieder auf die andere,
die judenchristliche Seite. Nach seinen Citaten zu schließen, ist seine Haupt¬
quelle für die Geschichte Jesu das Matthäusevangelium. außerdem kennt er
auch den Lucas. Zweifelhafter ist schon, ob er den Marcus benutzte, und vom
Johannescvangelium findet sich bei ihm gleichfalls noch leine sichere Spur.
Allein auch die Anführungen, die er aus jenen Evangelien macht, lassen schließen,
daß dieselben noch nicht völlig in der uns vorliegenden Gestalt vorhanden
waren, sowie außerdem noch die Benutzung eines andern, ohne Zweifel des Hebräer¬
evangeliums, bei Justin wahrscheinlich ist. Auch dies ist bezeichnend, daß er
die Evangelien gewöhnlich unter dem Titel "Denkwürdigkeiten der Apostel" an¬
führt. Schon dies weist darauf hin, daß mit dem officiellen Namen auch ihr
kanonischer Charakter damals noch nicht festgestellt war, wie denn wirklich der
Begriff der heiligen Schrift bei ihm noch auf das alte Testament beschränkt ist,
und er geradezu behauptet, daß man sonst nirgcndswohcr über Gott und die
wahre Religion etwas lernen könne, als allein von den alttestamentlichen Pro¬
pheten, die vom heiligen Geist beseelt die Wahrheit lehren. Außerdem erkennt


noch in der ersten Kindheit lag, 3) daß mit der Geschichte des Kanon zugleich
die Kritik des Kanon Hand in Hand geht; denn eine Kritik, wenn auch rein
dogmatische Kritik ist es, wenn der schroffe Jndcnchrist an den längst vor¬
handenen paulinischen Briefen vorübergeht.

Auf die entgegengesetzte, streng paulinische. Seite führt uns die Sammlung
christlicher Schriften, welche dem zu den Gnostikern, einer vielverzweigten
religionöphilvsophischen Richtung, gerechneten Marcion (gegen die Mitte des
zweiten Jahrhunderts) als echt, d. h. als echter Ausdruck des Christenthums,
wie er es verstand, und darum auch apostolischen Ursprungs galten. Marcion
schließt das Matthäus- und das Marcuscvaugelium grundsätzlich aus; er erkennt
nur ein Evangelium an, das des Lucas, aber nicht, ohne auch dieses zuvor
von allen nichtpaulinischcn Stücken gereinigt zu haben. Außerdem besteht sein
Kanon nur noch aus einer Sammlung von zehn paulinischen Schriften. Die
Offenbarung des Johannes verwirft er als Schuft eines judcnchristlichcu Ur-
apostels. Die Apostelgeschichte und die Hirtenbriefe kennt er noch nickt, da
diese erst gegen die marcionitische Gnosis gerichtet sind. Daß er den Hcbräcr-
brief nicht kennt, der ganz in-seiner Richtung gelegen mare, ist ein Beweis,
daß derselbe damals mindestens noch keine Anerkennung und Verbreitung ge¬
funden hatte. Ebenso darf man aus seinem Stillschweigen über das Johanncs-
evangelinm schließen, daß dieses noch nicht vorhanden war, da es sich sonst
noch besser als das des Lucas für seine juristische Auffassung des Christenthums
dargeboten hätte.

Einer der wichtigsten Schriftsteller für die Geschichte des Kanon ist der
Märtyrer Justinus (nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts) von dem uns
noch mehre Schriften erhalten sind. Mit ihm treten nur wieder auf die andere,
die judenchristliche Seite. Nach seinen Citaten zu schließen, ist seine Haupt¬
quelle für die Geschichte Jesu das Matthäusevangelium. außerdem kennt er
auch den Lucas. Zweifelhafter ist schon, ob er den Marcus benutzte, und vom
Johannescvangelium findet sich bei ihm gleichfalls noch leine sichere Spur.
Allein auch die Anführungen, die er aus jenen Evangelien macht, lassen schließen,
daß dieselben noch nicht völlig in der uns vorliegenden Gestalt vorhanden
waren, sowie außerdem noch die Benutzung eines andern, ohne Zweifel des Hebräer¬
evangeliums, bei Justin wahrscheinlich ist. Auch dies ist bezeichnend, daß er
die Evangelien gewöhnlich unter dem Titel „Denkwürdigkeiten der Apostel" an¬
führt. Schon dies weist darauf hin, daß mit dem officiellen Namen auch ihr
kanonischer Charakter damals noch nicht festgestellt war, wie denn wirklich der
Begriff der heiligen Schrift bei ihm noch auf das alte Testament beschränkt ist,
und er geradezu behauptet, daß man sonst nirgcndswohcr über Gott und die
wahre Religion etwas lernen könne, als allein von den alttestamentlichen Pro¬
pheten, die vom heiligen Geist beseelt die Wahrheit lehren. Außerdem erkennt


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[0255] noch in der ersten Kindheit lag, 3) daß mit der Geschichte des Kanon zugleich die Kritik des Kanon Hand in Hand geht; denn eine Kritik, wenn auch rein dogmatische Kritik ist es, wenn der schroffe Jndcnchrist an den längst vor¬ handenen paulinischen Briefen vorübergeht. Auf die entgegengesetzte, streng paulinische. Seite führt uns die Sammlung christlicher Schriften, welche dem zu den Gnostikern, einer vielverzweigten religionöphilvsophischen Richtung, gerechneten Marcion (gegen die Mitte des zweiten Jahrhunderts) als echt, d. h. als echter Ausdruck des Christenthums, wie er es verstand, und darum auch apostolischen Ursprungs galten. Marcion schließt das Matthäus- und das Marcuscvaugelium grundsätzlich aus; er erkennt nur ein Evangelium an, das des Lucas, aber nicht, ohne auch dieses zuvor von allen nichtpaulinischcn Stücken gereinigt zu haben. Außerdem besteht sein Kanon nur noch aus einer Sammlung von zehn paulinischen Schriften. Die Offenbarung des Johannes verwirft er als Schuft eines judcnchristlichcu Ur- apostels. Die Apostelgeschichte und die Hirtenbriefe kennt er noch nickt, da diese erst gegen die marcionitische Gnosis gerichtet sind. Daß er den Hcbräcr- brief nicht kennt, der ganz in-seiner Richtung gelegen mare, ist ein Beweis, daß derselbe damals mindestens noch keine Anerkennung und Verbreitung ge¬ funden hatte. Ebenso darf man aus seinem Stillschweigen über das Johanncs- evangelinm schließen, daß dieses noch nicht vorhanden war, da es sich sonst noch besser als das des Lucas für seine juristische Auffassung des Christenthums dargeboten hätte. Einer der wichtigsten Schriftsteller für die Geschichte des Kanon ist der Märtyrer Justinus (nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts) von dem uns noch mehre Schriften erhalten sind. Mit ihm treten nur wieder auf die andere, die judenchristliche Seite. Nach seinen Citaten zu schließen, ist seine Haupt¬ quelle für die Geschichte Jesu das Matthäusevangelium. außerdem kennt er auch den Lucas. Zweifelhafter ist schon, ob er den Marcus benutzte, und vom Johannescvangelium findet sich bei ihm gleichfalls noch leine sichere Spur. Allein auch die Anführungen, die er aus jenen Evangelien macht, lassen schließen, daß dieselben noch nicht völlig in der uns vorliegenden Gestalt vorhanden waren, sowie außerdem noch die Benutzung eines andern, ohne Zweifel des Hebräer¬ evangeliums, bei Justin wahrscheinlich ist. Auch dies ist bezeichnend, daß er die Evangelien gewöhnlich unter dem Titel „Denkwürdigkeiten der Apostel" an¬ führt. Schon dies weist darauf hin, daß mit dem officiellen Namen auch ihr kanonischer Charakter damals noch nicht festgestellt war, wie denn wirklich der Begriff der heiligen Schrift bei ihm noch auf das alte Testament beschränkt ist, und er geradezu behauptet, daß man sonst nirgcndswohcr über Gott und die wahre Religion etwas lernen könne, als allein von den alttestamentlichen Pro¬ pheten, die vom heiligen Geist beseelt die Wahrheit lehren. Außerdem erkennt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/255>, abgerufen am 26.06.2024.