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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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daß der Gläubige sich auf dem Felsen stehend, auf den Sprossen der Leiter
heranklimmend, auf Se. Ursula Schifflein fahrend, wirklich und leibhaftig
empfindet.

Als die Reformation den Geist des Volkes von solchem epischen Bann
befreite, war die Wirkung eine gewaltige, dem Volk war plötzlich die Binde
von den Augen genommen, und der Unterschied zwischen Form und Inhalt.
Schein und Wesen wurde wie ein neuer Erwerb von Hunderttausenden erfaßt.

Auch in diesem Sinne ist Luther Reformator des deutschen Volksgemüths
bei allen Confessionen. Nicht nur weil er das Nachdenken und Prüfen der
subtilsten theologischen Lehrsätze bis in die ärmlichste Hütte hineintrug, schon
deshalb, weil zugleich mit der leidenschaftlichen Theilnahme des Volkes an dem
Streit seiner Geistlichen zuerst eine massenhafte Verbreitung gedruckter Schriften
in dem Volke möglich wurde. Seine Reformation vermittelte dem Volk den
Nücherdruck. Seitdem begann in dem ehrlichen, unbefangenen Gemüth des
Volkes das Suchen nach Wahrheit, erst seit dieser Zeit traten die Massen in
die große Culiurbewegung ein.

Wenn aber Luther sich so sehr auf den Buchstaben der Schrift steifte, so
war er auch darin ein echter Sohn des Volkes. Denn die selbständige Thätig-
keit des Individuums konnte zunächst einen festen Halt, ein äußerliches Ge¬
gebenes, woran sie sich klammerte, noch gar nicht entbehren. Das Wort der
Schrift war zwar des magischen Zaubers entkleidet, welchen die religiöse Formel
im Mittelalter gehabt hatte, dafür wurde sie dem Volke der unverbesserliche
von Gott eingegebene Ausdruck für die heiligen Lehren, und mit Subtilität
wurde untersucht, ob der Inhalt des Glaubens, den jemand bekannte, auch
mit dem Wortlaut der heiligen Schrift genau stimmte. Wie Luther um die
Einsetzungswvrte des Abendmahls haderte und zürnte, ebenso hielt aus diesem
Bedürfniß der Mann aus dem Volke, Katholik und Protestant, scharf zum
Wortlaut seiner Lehrbücher, denn das war noch die nationale und gegebene
Weise den Sinn zu begreifen, und deshalb war der trotzige Eigensinn Luthers
gerade das Vvltöthümlichste an dem großen Manne, der noch mit einem Fuß
im Miitelalter stand. Wenn z. B. die katholische Uebertragung des Evange¬
liums vom Zinsgroschen das griechische Wort mit Pfennig statt, wie die Evange¬
lischen, mit Groschen übersetzte, so war dieser Zufall für den Protestanten ein
ernster Beweis von der Unwahrheit der katholischen Lehre, weil aus den Pfennigen
niemals Bild und Ueberschrift eines Fürsten geprägt wurde.

Der Geist war allerdings erweckt und rührte sich kräftig, und die magische
Kraft gegebener Formeln wurde geläugnet. Aber noch lange blieb dem Volk
die lebendige Empfindung für den bildlichen Sinn der Worte, ja auch die
spielende Freude am Klänge derselben, während unsere Schriftsprache in den
Händen der schreibenden Gelehrten sich schnell vergeistigte, für Wohlklang und


daß der Gläubige sich auf dem Felsen stehend, auf den Sprossen der Leiter
heranklimmend, auf Se. Ursula Schifflein fahrend, wirklich und leibhaftig
empfindet.

Als die Reformation den Geist des Volkes von solchem epischen Bann
befreite, war die Wirkung eine gewaltige, dem Volk war plötzlich die Binde
von den Augen genommen, und der Unterschied zwischen Form und Inhalt.
Schein und Wesen wurde wie ein neuer Erwerb von Hunderttausenden erfaßt.

Auch in diesem Sinne ist Luther Reformator des deutschen Volksgemüths
bei allen Confessionen. Nicht nur weil er das Nachdenken und Prüfen der
subtilsten theologischen Lehrsätze bis in die ärmlichste Hütte hineintrug, schon
deshalb, weil zugleich mit der leidenschaftlichen Theilnahme des Volkes an dem
Streit seiner Geistlichen zuerst eine massenhafte Verbreitung gedruckter Schriften
in dem Volke möglich wurde. Seine Reformation vermittelte dem Volk den
Nücherdruck. Seitdem begann in dem ehrlichen, unbefangenen Gemüth des
Volkes das Suchen nach Wahrheit, erst seit dieser Zeit traten die Massen in
die große Culiurbewegung ein.

Wenn aber Luther sich so sehr auf den Buchstaben der Schrift steifte, so
war er auch darin ein echter Sohn des Volkes. Denn die selbständige Thätig-
keit des Individuums konnte zunächst einen festen Halt, ein äußerliches Ge¬
gebenes, woran sie sich klammerte, noch gar nicht entbehren. Das Wort der
Schrift war zwar des magischen Zaubers entkleidet, welchen die religiöse Formel
im Mittelalter gehabt hatte, dafür wurde sie dem Volke der unverbesserliche
von Gott eingegebene Ausdruck für die heiligen Lehren, und mit Subtilität
wurde untersucht, ob der Inhalt des Glaubens, den jemand bekannte, auch
mit dem Wortlaut der heiligen Schrift genau stimmte. Wie Luther um die
Einsetzungswvrte des Abendmahls haderte und zürnte, ebenso hielt aus diesem
Bedürfniß der Mann aus dem Volke, Katholik und Protestant, scharf zum
Wortlaut seiner Lehrbücher, denn das war noch die nationale und gegebene
Weise den Sinn zu begreifen, und deshalb war der trotzige Eigensinn Luthers
gerade das Vvltöthümlichste an dem großen Manne, der noch mit einem Fuß
im Miitelalter stand. Wenn z. B. die katholische Uebertragung des Evange¬
liums vom Zinsgroschen das griechische Wort mit Pfennig statt, wie die Evange¬
lischen, mit Groschen übersetzte, so war dieser Zufall für den Protestanten ein
ernster Beweis von der Unwahrheit der katholischen Lehre, weil aus den Pfennigen
niemals Bild und Ueberschrift eines Fürsten geprägt wurde.

Der Geist war allerdings erweckt und rührte sich kräftig, und die magische
Kraft gegebener Formeln wurde geläugnet. Aber noch lange blieb dem Volk
die lebendige Empfindung für den bildlichen Sinn der Worte, ja auch die
spielende Freude am Klänge derselben, während unsere Schriftsprache in den
Händen der schreibenden Gelehrten sich schnell vergeistigte, für Wohlklang und


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[0184] daß der Gläubige sich auf dem Felsen stehend, auf den Sprossen der Leiter heranklimmend, auf Se. Ursula Schifflein fahrend, wirklich und leibhaftig empfindet. Als die Reformation den Geist des Volkes von solchem epischen Bann befreite, war die Wirkung eine gewaltige, dem Volk war plötzlich die Binde von den Augen genommen, und der Unterschied zwischen Form und Inhalt. Schein und Wesen wurde wie ein neuer Erwerb von Hunderttausenden erfaßt. Auch in diesem Sinne ist Luther Reformator des deutschen Volksgemüths bei allen Confessionen. Nicht nur weil er das Nachdenken und Prüfen der subtilsten theologischen Lehrsätze bis in die ärmlichste Hütte hineintrug, schon deshalb, weil zugleich mit der leidenschaftlichen Theilnahme des Volkes an dem Streit seiner Geistlichen zuerst eine massenhafte Verbreitung gedruckter Schriften in dem Volke möglich wurde. Seine Reformation vermittelte dem Volk den Nücherdruck. Seitdem begann in dem ehrlichen, unbefangenen Gemüth des Volkes das Suchen nach Wahrheit, erst seit dieser Zeit traten die Massen in die große Culiurbewegung ein. Wenn aber Luther sich so sehr auf den Buchstaben der Schrift steifte, so war er auch darin ein echter Sohn des Volkes. Denn die selbständige Thätig- keit des Individuums konnte zunächst einen festen Halt, ein äußerliches Ge¬ gebenes, woran sie sich klammerte, noch gar nicht entbehren. Das Wort der Schrift war zwar des magischen Zaubers entkleidet, welchen die religiöse Formel im Mittelalter gehabt hatte, dafür wurde sie dem Volke der unverbesserliche von Gott eingegebene Ausdruck für die heiligen Lehren, und mit Subtilität wurde untersucht, ob der Inhalt des Glaubens, den jemand bekannte, auch mit dem Wortlaut der heiligen Schrift genau stimmte. Wie Luther um die Einsetzungswvrte des Abendmahls haderte und zürnte, ebenso hielt aus diesem Bedürfniß der Mann aus dem Volke, Katholik und Protestant, scharf zum Wortlaut seiner Lehrbücher, denn das war noch die nationale und gegebene Weise den Sinn zu begreifen, und deshalb war der trotzige Eigensinn Luthers gerade das Vvltöthümlichste an dem großen Manne, der noch mit einem Fuß im Miitelalter stand. Wenn z. B. die katholische Uebertragung des Evange¬ liums vom Zinsgroschen das griechische Wort mit Pfennig statt, wie die Evange¬ lischen, mit Groschen übersetzte, so war dieser Zufall für den Protestanten ein ernster Beweis von der Unwahrheit der katholischen Lehre, weil aus den Pfennigen niemals Bild und Ueberschrift eines Fürsten geprägt wurde. Der Geist war allerdings erweckt und rührte sich kräftig, und die magische Kraft gegebener Formeln wurde geläugnet. Aber noch lange blieb dem Volk die lebendige Empfindung für den bildlichen Sinn der Worte, ja auch die spielende Freude am Klänge derselben, während unsere Schriftsprache in den Händen der schreibenden Gelehrten sich schnell vergeistigte, für Wohlklang und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/184>, abgerufen am 23.07.2024.