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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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die Welt aufzunehmen und zu reproduciren ist in beständiger Wandlung be¬
griffen.

Wenn man vollends in die Vergangenheit unseres Volkes zurückblickt, so
ist der Unterschied seiner Seelcnarbeit vor und nach Luther sehr groß.

In den letzten Jahrhunderten des Mittelalters war das populärste geistige
Schaffen des deutschen Volkes ein behagliches, oft possenhaftes Spiel mit Bildern
und ihrer Bedeutung. Der Gedanke versteckte sich hinter einem bildlichen Aus-
druck, das Thun wurde durch sinnbildliche Handlungen gekräftigt, der gewöhn¬
liche Scherz war in der Weise Eulenspiegcls, ein Spiel zwischen der eigent¬
lichen und uneigentlichen Bedeutung einer Sache oder Redensart. Einfältig
war, wer sich unbefangen dem Eindruck des Bildes hingab, weise, wer den
geheimen Sinne desselben zu fassen wußte. Und es war ein Lieblingsschcrz des
Volkes, der Einfalt den letzten Erfolg, das beste Recht, den Beifall der Landen¬
den zu geben.

Es wird uns nicht leicht die Wichtigkeit zu begreifen, welche man im
Mittelalter der bildlichen Hülle eines Gedankens, dem symbolischen Ausdruck
einer Handlung beilegte. Wenn wir die kleinen Cirruswölkchen mit einer
Lämmerheerde vergleichen, so sind wir uns bewußt, daß dieser Vergleich auf
nichts beruht, als einer ganz zufälligen Achnlichkeit des Aussehens, die uns nicht
einmal groß erscheint. Was uns ein unwesentlicher Vergleich ist, war aber in
alter Zeit das Wesen der Wolke selbst, die Phantasie des jungen Volkes faßte
in Wahrheit das Wolkenheer als eine Heerde himmlischer Schafe, die Sache
selbst und der bildliche Ausdruck flössen zusammen. Uns ist die bedeutsame
Geberde als Begleiter einer rechtskräftigen Handlung z. B. bei Kauf und Ver¬
kauf nicht mehr Hauptsache, wir üben vielleicht noch den alten Brauch, aber
die Gültigkeit des Geschäftes hängt in der Regel nicht mehr daran, einst war
der Gest, das vorgeschriebene Wort die Hauptsache der Handlung. Uns ist
das gesprochene Gebet nur der Ausdruck innerer Empfindung, die Worte haben
nur insofern Bedeutung, als sie den Sinn unserer Bitten wiedergeben, sie
können jeden Augenblick mit andern vertauscht werden, welche etwa dasselbe
ausdrücken. Im Mittelalter waren die Gebetworte nicht willkürlich und nach
freier Wahl zu bestimmen, sondern die Worte selbst waren das Wirksame, nur
in der überlieferten Aufeinanderfolge hatten sie die Wirkung, von der Mutter
Gottes eine Fürbitte zu erwerben, das Vieh vor bösem Zauber zu beschützen,
die lodernde Flamme von einem Gebäude abzuhalten. Und ein Gebet war
wirksamer als das andere, ein sehr wirksames ein sehr seltener und kostbarer
Erwerb. Auch die Mystik des Mittelalters beruhte in der Regel darauf, daß
ausgesponnene Bilder mit dem Inhalt frommer Lehre zusammenflossen, die
Himmelsleiter, die sieben Felsen der Sünde, das Schifflein einer Heiligen, in
welchem die Seelen bei Hölle und Tod vorüberfahren, werden so empfunden,


die Welt aufzunehmen und zu reproduciren ist in beständiger Wandlung be¬
griffen.

Wenn man vollends in die Vergangenheit unseres Volkes zurückblickt, so
ist der Unterschied seiner Seelcnarbeit vor und nach Luther sehr groß.

In den letzten Jahrhunderten des Mittelalters war das populärste geistige
Schaffen des deutschen Volkes ein behagliches, oft possenhaftes Spiel mit Bildern
und ihrer Bedeutung. Der Gedanke versteckte sich hinter einem bildlichen Aus-
druck, das Thun wurde durch sinnbildliche Handlungen gekräftigt, der gewöhn¬
liche Scherz war in der Weise Eulenspiegcls, ein Spiel zwischen der eigent¬
lichen und uneigentlichen Bedeutung einer Sache oder Redensart. Einfältig
war, wer sich unbefangen dem Eindruck des Bildes hingab, weise, wer den
geheimen Sinne desselben zu fassen wußte. Und es war ein Lieblingsschcrz des
Volkes, der Einfalt den letzten Erfolg, das beste Recht, den Beifall der Landen¬
den zu geben.

Es wird uns nicht leicht die Wichtigkeit zu begreifen, welche man im
Mittelalter der bildlichen Hülle eines Gedankens, dem symbolischen Ausdruck
einer Handlung beilegte. Wenn wir die kleinen Cirruswölkchen mit einer
Lämmerheerde vergleichen, so sind wir uns bewußt, daß dieser Vergleich auf
nichts beruht, als einer ganz zufälligen Achnlichkeit des Aussehens, die uns nicht
einmal groß erscheint. Was uns ein unwesentlicher Vergleich ist, war aber in
alter Zeit das Wesen der Wolke selbst, die Phantasie des jungen Volkes faßte
in Wahrheit das Wolkenheer als eine Heerde himmlischer Schafe, die Sache
selbst und der bildliche Ausdruck flössen zusammen. Uns ist die bedeutsame
Geberde als Begleiter einer rechtskräftigen Handlung z. B. bei Kauf und Ver¬
kauf nicht mehr Hauptsache, wir üben vielleicht noch den alten Brauch, aber
die Gültigkeit des Geschäftes hängt in der Regel nicht mehr daran, einst war
der Gest, das vorgeschriebene Wort die Hauptsache der Handlung. Uns ist
das gesprochene Gebet nur der Ausdruck innerer Empfindung, die Worte haben
nur insofern Bedeutung, als sie den Sinn unserer Bitten wiedergeben, sie
können jeden Augenblick mit andern vertauscht werden, welche etwa dasselbe
ausdrücken. Im Mittelalter waren die Gebetworte nicht willkürlich und nach
freier Wahl zu bestimmen, sondern die Worte selbst waren das Wirksame, nur
in der überlieferten Aufeinanderfolge hatten sie die Wirkung, von der Mutter
Gottes eine Fürbitte zu erwerben, das Vieh vor bösem Zauber zu beschützen,
die lodernde Flamme von einem Gebäude abzuhalten. Und ein Gebet war
wirksamer als das andere, ein sehr wirksames ein sehr seltener und kostbarer
Erwerb. Auch die Mystik des Mittelalters beruhte in der Regel darauf, daß
ausgesponnene Bilder mit dem Inhalt frommer Lehre zusammenflossen, die
Himmelsleiter, die sieben Felsen der Sünde, das Schifflein einer Heiligen, in
welchem die Seelen bei Hölle und Tod vorüberfahren, werden so empfunden,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/183>, abgerufen am 23.07.2024.