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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Redensarten und dem vorsichtigen Schrauben eine originelle Arbeit der Seele
entdecken, welche die Reproduction durch die geschriebenen Worte unserer Sprache
fast unmöglich macht. In den Worten ist eine etwas andere Bedeutung, in den
Reden eine etwas andere Seele, als die Gebildeten hineinzulegen Vermögen.
Was uns gar kein Spaß erscheint, wirkt auf die ländlichen Hörer sehr komisch,
wo wir eine längere Redeausführung erwarten, befriedigt ein knappes Sprich¬
wort, ein Bild, vielleicht nur ein Spiel mit Klang und Laut der Worte, für
welches wir wenig Empfänglichkeit haben. Das ist nicht Rohheit, es ist im
Grunde eine andere Form der Bildung, welche die Anspruchsvollen nicht mehr
besitzen, die aber ihren Vorfahren geläufig war.

Wenn uns jemand aus den kleinen Kreisen des Volkes etwas Geschehenes
erzählt, so wird auch, wenn er angeregt und geläufig berichtet, in seiner Rede
eine andere Methode der Darstellung, als wir haben, bemerkbar. Einzelne
Momente des Ereignisses treten stark hervor und sind bereits reichlich mit den
Empfindungen versetzt, welche sie in dem Erzähler hervorgerufen haben; der
wirkliche Zusammenhang der Geschichte tritt wahrscheinlich zurück und der Be¬
richterstatter hat dafür, ohne es zu wissen, eine andere erfunden, dem zu Liebe
sogar das Thatsächliche umgeformt wird. Jeder Verhörrichter weiß, wie schwer
es ist, einen objectiven Thatbestand aus den Erzählungen lebhaft erregter Zeugen
festzustellen, es scheint oft unglaublich, daß der eine, gehört, der andere gesehen
hat, was nicht war, und daß sie nicht beachtet haben, was ruhigem Urtheile
die Hauptsache wäre. Wir nennen in solchem Fall die fremdartige Auffassung
bei einem Kinde aus dem Volke mangelhaft und unverständig, sie ist wieder
nur die nothwendige Folge einer geistigen Organisation, bei welcher die Phan¬
tasie schneller und souveräner zwischen die Wahrnehmungen der Sinne tritt,
als wir für erlaubt halten. Aber es hat viele Jahrhunderte gegeben, wo die
ganze Nation so empfand und so erzählte; und diese vergangene Zeit lebt
noch unter uns in vielen tausend Persönlichkeiten, ja die Mehrzahl des Volkes
hat in seiner geistigen Production noch etwas von diesem Altertümlichen, das
durch unsere Bildung überwunden ist.

Allerdings ist in jeder Schicht unseres Volkes die Einwirkung unserer
Bildung sichtbar. Wer irgend aus den engen Grenzen seines Dialekts heraus¬
tritt, der nimmt mit dem Verständniß unserer Schriftsprache auch unendlich viel
von der geistigen Arbeit unserer Zeit in sich auf. Wer sich vollends übt, Ge¬
drucktes zu lesen, der gewöhnt seinen Geist an die straffere Logik, den reichlicheren
Ausdruck und die durchsichtige Klarheit unseres Denkens. Dann schwindet ihm
die alte volksthümliche Methode, sich die Dinge einzubilden, den Gedanken in
der Hülle eines Bildes zu bewahren, oder sie tritt nur noch gelegentlich in
Stunden des behaglichen Gehenlassens hervor. In diesem Sinne hat das ganze
Volk an unserem Vcrtiefungsproceß Antheil genommen und auch seine Weise


Redensarten und dem vorsichtigen Schrauben eine originelle Arbeit der Seele
entdecken, welche die Reproduction durch die geschriebenen Worte unserer Sprache
fast unmöglich macht. In den Worten ist eine etwas andere Bedeutung, in den
Reden eine etwas andere Seele, als die Gebildeten hineinzulegen Vermögen.
Was uns gar kein Spaß erscheint, wirkt auf die ländlichen Hörer sehr komisch,
wo wir eine längere Redeausführung erwarten, befriedigt ein knappes Sprich¬
wort, ein Bild, vielleicht nur ein Spiel mit Klang und Laut der Worte, für
welches wir wenig Empfänglichkeit haben. Das ist nicht Rohheit, es ist im
Grunde eine andere Form der Bildung, welche die Anspruchsvollen nicht mehr
besitzen, die aber ihren Vorfahren geläufig war.

Wenn uns jemand aus den kleinen Kreisen des Volkes etwas Geschehenes
erzählt, so wird auch, wenn er angeregt und geläufig berichtet, in seiner Rede
eine andere Methode der Darstellung, als wir haben, bemerkbar. Einzelne
Momente des Ereignisses treten stark hervor und sind bereits reichlich mit den
Empfindungen versetzt, welche sie in dem Erzähler hervorgerufen haben; der
wirkliche Zusammenhang der Geschichte tritt wahrscheinlich zurück und der Be¬
richterstatter hat dafür, ohne es zu wissen, eine andere erfunden, dem zu Liebe
sogar das Thatsächliche umgeformt wird. Jeder Verhörrichter weiß, wie schwer
es ist, einen objectiven Thatbestand aus den Erzählungen lebhaft erregter Zeugen
festzustellen, es scheint oft unglaublich, daß der eine, gehört, der andere gesehen
hat, was nicht war, und daß sie nicht beachtet haben, was ruhigem Urtheile
die Hauptsache wäre. Wir nennen in solchem Fall die fremdartige Auffassung
bei einem Kinde aus dem Volke mangelhaft und unverständig, sie ist wieder
nur die nothwendige Folge einer geistigen Organisation, bei welcher die Phan¬
tasie schneller und souveräner zwischen die Wahrnehmungen der Sinne tritt,
als wir für erlaubt halten. Aber es hat viele Jahrhunderte gegeben, wo die
ganze Nation so empfand und so erzählte; und diese vergangene Zeit lebt
noch unter uns in vielen tausend Persönlichkeiten, ja die Mehrzahl des Volkes
hat in seiner geistigen Production noch etwas von diesem Altertümlichen, das
durch unsere Bildung überwunden ist.

Allerdings ist in jeder Schicht unseres Volkes die Einwirkung unserer
Bildung sichtbar. Wer irgend aus den engen Grenzen seines Dialekts heraus¬
tritt, der nimmt mit dem Verständniß unserer Schriftsprache auch unendlich viel
von der geistigen Arbeit unserer Zeit in sich auf. Wer sich vollends übt, Ge¬
drucktes zu lesen, der gewöhnt seinen Geist an die straffere Logik, den reichlicheren
Ausdruck und die durchsichtige Klarheit unseres Denkens. Dann schwindet ihm
die alte volksthümliche Methode, sich die Dinge einzubilden, den Gedanken in
der Hülle eines Bildes zu bewahren, oder sie tritt nur noch gelegentlich in
Stunden des behaglichen Gehenlassens hervor. In diesem Sinne hat das ganze
Volk an unserem Vcrtiefungsproceß Antheil genommen und auch seine Weise


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/182>, abgerufen am 23.07.2024.