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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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sang in den zahlreichen Umwandlung" nachzuweisen, das ist, so scheint uns,
eine der schönsten Aufgaben des Geschichtschreibers.

Wir sind geneigt vorauszusetzen, das? dieselbe freie und objective Auffassung
der irdischen Gestalten, Formen und Ereignisse, welche uns möglich ist, zu allen
Zeiten möglich war und wir geben uns noch öfter der Ansicht hin, daß unsere
Auffassung der Bilder und Eindrücke, welche uns die Welt cntgegenträgt, zwar
eine mangelhafte, aber innerhalb gewisser Grenzen absolut richtige sei. Nähere
Betrachtung freilich ergiebt, das; auch unsere Auffassung des Lebens überall
eingeengt wird, nicht nur durch die Schranken unserer Sinne, sondern auch
dadurch, daß wir, was in unsere Seele fällt, was wir sehen, hören, erkennen,
immer noch mit einem Zusatz unseres Wesens färben, welcher die Nichtigkeit
unserer Beobachtungen und Schlüsse beeinträchtigt. Und die Wissenschaft kennt
keine größere Plage als die. welche ihr durch unsere unvollkommene Befähigung,
das objectiv Wahre festzustellen, bereitet wird. Jede Betrachtung vergangener
Zeiten lehrt uns freilich, wie große Fortschritte wir im Ganzen darin gemacht
haben und wie getrübt und befangen die Auffassung früherer Zeiten war. Die
Abbildung einer Pflanze an einer Wand von Pompeji, an einem Pergament¬
bild des zwölften Jahrhunderts und in einem Holzschnitt des fünfzehnten Jahr¬
hunderts zeigt eine ganz verschiedene Auffassung ihrer Formen und jede von
diesen Auffassungen erscheint uns fremdartig und unvollkommen, wenn wir auch
aus jeder die Pflanze erkennen. Eine Definition des Aristoteles und eines
modernen deutschen Philosophen unterscheiden sich nicht nur durch- die feine
Schattirung der Begriffe, welche den Wörtern durch die Besonderheit der ver¬
schiedenen Sprachen aufgezwungen wird, sondern auch darin, daß der große
Denker des Alterthums zuweilen durch Hervorhebung anderer Prädicate und
charakteristischer Kennzeichen in das Wesen der Dinge einzudringen sucht, als
uns Modernen sachgemäß dünkt. Und die Verschiedenheit unseres Sehens,
Hörens und Empfindens wird nicht blos dann auffallend, wenn man Jetzt und
Einst oder mehre Völker vergleicht, auch in der Gegenwart sind die Individuen
desselben Volkes einander in der Auffassung des Wahrnehmbaren durch die
Sinne und im Verarbeiten deS Aufgenommenen durch Geist und Gemüth sehr
ungleich. Hier soll nicht von der naheliegenden Verschiedenheit die Rede sein,
welche durch Alter, Temperament, Zufälle hervorgebracht wird, nur von dem
Gegensatz, welcher die Gebildeten und Einfachen, die geistigen Führer und die
Masse des Volkes, die Fortgeschrittener und die Zurückgebliebenen von einander
trennt. Wir empfinden ihn "n Verkehr mit den kleineren Kreisen des Volkes
zuweilen mit Erstaunen und Behagen, nicht selten mit Unwillen und Schmerz.

Wer eine Unterhaltung junger Burschen auf dem Lande anhört, dem klingen
Sprache und Scherze, auch wenn er sie versteht, zuweilen recht fremdartig.
Wenn es Deutsche sind, so wird er hinter den trocknen Späßen, den kurzen


sang in den zahlreichen Umwandlung» nachzuweisen, das ist, so scheint uns,
eine der schönsten Aufgaben des Geschichtschreibers.

Wir sind geneigt vorauszusetzen, das? dieselbe freie und objective Auffassung
der irdischen Gestalten, Formen und Ereignisse, welche uns möglich ist, zu allen
Zeiten möglich war und wir geben uns noch öfter der Ansicht hin, daß unsere
Auffassung der Bilder und Eindrücke, welche uns die Welt cntgegenträgt, zwar
eine mangelhafte, aber innerhalb gewisser Grenzen absolut richtige sei. Nähere
Betrachtung freilich ergiebt, das; auch unsere Auffassung des Lebens überall
eingeengt wird, nicht nur durch die Schranken unserer Sinne, sondern auch
dadurch, daß wir, was in unsere Seele fällt, was wir sehen, hören, erkennen,
immer noch mit einem Zusatz unseres Wesens färben, welcher die Nichtigkeit
unserer Beobachtungen und Schlüsse beeinträchtigt. Und die Wissenschaft kennt
keine größere Plage als die. welche ihr durch unsere unvollkommene Befähigung,
das objectiv Wahre festzustellen, bereitet wird. Jede Betrachtung vergangener
Zeiten lehrt uns freilich, wie große Fortschritte wir im Ganzen darin gemacht
haben und wie getrübt und befangen die Auffassung früherer Zeiten war. Die
Abbildung einer Pflanze an einer Wand von Pompeji, an einem Pergament¬
bild des zwölften Jahrhunderts und in einem Holzschnitt des fünfzehnten Jahr¬
hunderts zeigt eine ganz verschiedene Auffassung ihrer Formen und jede von
diesen Auffassungen erscheint uns fremdartig und unvollkommen, wenn wir auch
aus jeder die Pflanze erkennen. Eine Definition des Aristoteles und eines
modernen deutschen Philosophen unterscheiden sich nicht nur durch- die feine
Schattirung der Begriffe, welche den Wörtern durch die Besonderheit der ver¬
schiedenen Sprachen aufgezwungen wird, sondern auch darin, daß der große
Denker des Alterthums zuweilen durch Hervorhebung anderer Prädicate und
charakteristischer Kennzeichen in das Wesen der Dinge einzudringen sucht, als
uns Modernen sachgemäß dünkt. Und die Verschiedenheit unseres Sehens,
Hörens und Empfindens wird nicht blos dann auffallend, wenn man Jetzt und
Einst oder mehre Völker vergleicht, auch in der Gegenwart sind die Individuen
desselben Volkes einander in der Auffassung des Wahrnehmbaren durch die
Sinne und im Verarbeiten deS Aufgenommenen durch Geist und Gemüth sehr
ungleich. Hier soll nicht von der naheliegenden Verschiedenheit die Rede sein,
welche durch Alter, Temperament, Zufälle hervorgebracht wird, nur von dem
Gegensatz, welcher die Gebildeten und Einfachen, die geistigen Führer und die
Masse des Volkes, die Fortgeschrittener und die Zurückgebliebenen von einander
trennt. Wir empfinden ihn »n Verkehr mit den kleineren Kreisen des Volkes
zuweilen mit Erstaunen und Behagen, nicht selten mit Unwillen und Schmerz.

Wer eine Unterhaltung junger Burschen auf dem Lande anhört, dem klingen
Sprache und Scherze, auch wenn er sie versteht, zuweilen recht fremdartig.
Wenn es Deutsche sind, so wird er hinter den trocknen Späßen, den kurzen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/181>, abgerufen am 25.08.2024.