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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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war die Frage, zu dem Grundgcgensatz, der sich durch die Zeit des Urchristen¬
thums hindurchzog, zu dem Gegensatz zwischen dem Judaismus und Paulmis-
, mus, und welche Resultate ließen sich hieraus für ihr Alter und gegenseitiges
Verhältniß gewinnen? Das Ergebniß war, daß das Lucasevangelium eine
bestimmt paulinische Tendenz verfolge, während das des Matthäus der jnoen-
christlichen Anschauung am nächsten stehe und alle Merkmale eines früheren
Ursprungs an sich irage, das Marcusevangelium endlich sich nach der Auswahl
seines Stoffs wie nach seiner ganzen Darstellungsweise als eine secundäre,
ezcerpirende Arbeit von neutralem, vermittelnden Eharatter zu erkennen gebe.

Wie Baur seine Untersuchungen über die paulinischen Briefe und die
Apostelgeschichte ni dem Werke: "Paulus, der Apostel Jesu Christi. Stuttgart
1845" zusammengestellt hat, so seine Forschungen über Johannes und die
Synoptiker in den "Kritischen Untersuchungen über die Evangelien. Tübingen,
1847." Beides sind Baurs kritische Hauptwerke. Mit ihnen war ein neuer
Boden für die Geschichte des Urchristenthums gewonnen. Jenes war sür das
apostolische und nachapostollsche Zeitalter, dieses sür die Evangelienfrage ent¬
scheidend. Ihre Resultate waren der feste Grund, auf welchem die tübinger
Schule weiter arbeitete. Blieb auch im Einzelnen noch vieles dunkel und strei¬
tig, so waren doch zwei principielle Punkte festgestellt, die durch keine Polemik
mehr erschüttert werden konnten. Wie auf zwei festen Grundsäulen ruht unsre
Kenntniß des Urchristenthums auf den beiden von Baur durchgeführten Unter¬
suchungen: einerseits des Verhältnisses der paulimschen Briefe zur Apostelgeschichte
andrerseits des Verhältnisses des Iohannescvangeliumö zu den Synoptikern. Die
historische Methode sah sich aufs glänzendste gerechtfertigt. Es war Plan und
Ordnung in das Chaos gebracht, das Grundgesetz der Entwickelung gefunden
und deren Hauptmomente nachgewiesen. Halte man von der "Tenocnzkritik"
eine auslösende, die Grundlagen unsrer Kirche willkürlich zerstörende Wirkung
befürchtet, so war das Gegentheil eingetroffen. Sie hatte sich als aufbauend
erwiesen, sie war im Stande, eine reiche, gehaltvolle, gesetzmäßig verlaufende
Entwickelung nachzuweisen auf einem Gebiet, das bisher außerhalb der Ge¬
schichte geblieben war. Je folgerichtiger sich eines aus dem anderen ergab,
je enger sich Combination an Combination schloß, um so mehr erhob sich das
Ganze dieser Combinationen zu einer wahrhaft geschichtlichen Gesammtauffassung
des Urchristenthums.

Eine übersichtliche Zusammenstellung der bisherigen Resultate auf dem
Boden der ältesten Kirchengeschichte gab dann Baur in dem Buche: "Das Christen¬
thum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte. Tübingen, 1853."
Es ist die reifste Frucht seiner schriftstellerischen Wirksamkeit, ein echtes Geschichts¬
werk, in welchem "Zusammenhang, Gattung und Einheit in das Ganze ge¬
macht, die bewegenden Kräfte und Principien, deren Product das Resultat


war die Frage, zu dem Grundgcgensatz, der sich durch die Zeit des Urchristen¬
thums hindurchzog, zu dem Gegensatz zwischen dem Judaismus und Paulmis-
, mus, und welche Resultate ließen sich hieraus für ihr Alter und gegenseitiges
Verhältniß gewinnen? Das Ergebniß war, daß das Lucasevangelium eine
bestimmt paulinische Tendenz verfolge, während das des Matthäus der jnoen-
christlichen Anschauung am nächsten stehe und alle Merkmale eines früheren
Ursprungs an sich irage, das Marcusevangelium endlich sich nach der Auswahl
seines Stoffs wie nach seiner ganzen Darstellungsweise als eine secundäre,
ezcerpirende Arbeit von neutralem, vermittelnden Eharatter zu erkennen gebe.

Wie Baur seine Untersuchungen über die paulinischen Briefe und die
Apostelgeschichte ni dem Werke: „Paulus, der Apostel Jesu Christi. Stuttgart
1845" zusammengestellt hat, so seine Forschungen über Johannes und die
Synoptiker in den „Kritischen Untersuchungen über die Evangelien. Tübingen,
1847." Beides sind Baurs kritische Hauptwerke. Mit ihnen war ein neuer
Boden für die Geschichte des Urchristenthums gewonnen. Jenes war sür das
apostolische und nachapostollsche Zeitalter, dieses sür die Evangelienfrage ent¬
scheidend. Ihre Resultate waren der feste Grund, auf welchem die tübinger
Schule weiter arbeitete. Blieb auch im Einzelnen noch vieles dunkel und strei¬
tig, so waren doch zwei principielle Punkte festgestellt, die durch keine Polemik
mehr erschüttert werden konnten. Wie auf zwei festen Grundsäulen ruht unsre
Kenntniß des Urchristenthums auf den beiden von Baur durchgeführten Unter¬
suchungen: einerseits des Verhältnisses der paulimschen Briefe zur Apostelgeschichte
andrerseits des Verhältnisses des Iohannescvangeliumö zu den Synoptikern. Die
historische Methode sah sich aufs glänzendste gerechtfertigt. Es war Plan und
Ordnung in das Chaos gebracht, das Grundgesetz der Entwickelung gefunden
und deren Hauptmomente nachgewiesen. Halte man von der „Tenocnzkritik"
eine auslösende, die Grundlagen unsrer Kirche willkürlich zerstörende Wirkung
befürchtet, so war das Gegentheil eingetroffen. Sie hatte sich als aufbauend
erwiesen, sie war im Stande, eine reiche, gehaltvolle, gesetzmäßig verlaufende
Entwickelung nachzuweisen auf einem Gebiet, das bisher außerhalb der Ge¬
schichte geblieben war. Je folgerichtiger sich eines aus dem anderen ergab,
je enger sich Combination an Combination schloß, um so mehr erhob sich das
Ganze dieser Combinationen zu einer wahrhaft geschichtlichen Gesammtauffassung
des Urchristenthums.

Eine übersichtliche Zusammenstellung der bisherigen Resultate auf dem
Boden der ältesten Kirchengeschichte gab dann Baur in dem Buche: „Das Christen¬
thum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte. Tübingen, 1853."
Es ist die reifste Frucht seiner schriftstellerischen Wirksamkeit, ein echtes Geschichts¬
werk, in welchem „Zusammenhang, Gattung und Einheit in das Ganze ge¬
macht, die bewegenden Kräfte und Principien, deren Product das Resultat


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/149>, abgerufen am 25.08.2024.