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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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ihr gestaltet habe. Daß nun das Letztere der Fall ist, wird von Baur aufs
geistvollste und überzeugendste nachgewiesen. Die ganze Komposition hat einen
ideellen, absichtvvllen Charakter, der geschichtliche Stoff ist nur der Reflex oder
die versinnlichcnde Hülle des dogmatischen Grundgedankens. Und zwar besteht
nun die durch das Ganze sich durchziehende Idee in dem Gegensatze Jesu als
des in der Welt erschienenen göttlichen Licht- und Lebensprincips zu der jüdischen
Well, in welcher das Princip der Finsterniß und des Unglaubens repräsentirt
ist. Mit dem Eintreten des göttlichen Worts (Logos) in das Fleisch beginnt
der große Kampf zwischen Licht und Finsterniß, Leben und Tod, Geist und
Fleisch, und nun wickelt sich in den Thatsachen des Lebens Jesu dieser Gegen¬
satz als ein von Moment zu Moment fortschreitender Proceß ab, der im letzten
Aufenhalt Jesu zu Jerusalem sich zu seinem dramatischen Höhepunkt erhebt und
in Tod und Auferstehung seinen Abschluß erhält. Unter diesem Gesichtspunkt
steht alles Thatsächliche, was der Evangelist aus der Tradition aufgenommen
oder umgebildet oder frei geschaffen hat. Und von hier aus fällt nun auch
auf die Abweichungen des evangelischen Stoffs von dem der übrigen Evangelien
erst das rechte Licht. Von hier aus läßt sich die relative Glaubwürdigkeit der
einen oder der andern Darstellung beurtheile", jetzt erst ergeben sich für den
geistigen Kreis, aus welchem es hervorgegangen ist, für die Zeit der Abfassung,
für den Verfasser bestimmtere Anhaltpunkte. Und nun treffen alle Momente zu¬
sammen: die Ausbildung der Logoslehre, das Verhältniß zu der schroff juden¬
christlichen Offenbarung des Johannes, die Beziehungen zu den gnostischen Ideen
und zu dem Streit über die Passahfeier, dazu endlich die Beschaffenheit der
äußeren Zeugnisse -- alles weist darauf hin, daß das Evangelium nicht von
dem Sohn des Zebedcius geschrieben ist, sondern als letzte und reifste Frucht
des Entwickelungsgangs, welchen das urchristliche Bewußtsein genommen, der
zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts angehört. Von seinem fortgeschrittenen
christlichen Standpunkt aus und in der Ueberzeugung, den wahren Geist des
Christenthums und Christi besser als die noch im Judenthum befangenen älteren
Evangelisten gefaßt zu haben, konnte sich der alexandrinisch gelehrte Verfasser
berechtigt glauben, die evangelische Geschichte umzuändern, Jesus Reden in den
Mund zu legen, die seinem .fortgeschrittenen Standpunkt entsprechen, ja sich
selbst als den Schoß- und Bufenjünger Jesu, wenn nicht ausdrücklich anzugeben,
doch deutlich genug errathen zu lassen.

Von da aus wandte sich dann Baur Schritt für Schritt rückwärts zu den
drei ersten Evangelien. Die Analyse des JohanneSevangeliums hatte gezeigt,
daß ihm gegenüber die synoptischen Evangelien die ursprünglicheren und glaub¬
würdigeren sind. Nur um so mehr kam es nun aber darauf an, nachzusehen,
ob sich nicht auch bei ihnen ein dogmatisches Interesse verrathe, welches auf
ihre Geschichtserzählung Einfluß gewonnen hat. Wie verhielten sie sich, dies


ihr gestaltet habe. Daß nun das Letztere der Fall ist, wird von Baur aufs
geistvollste und überzeugendste nachgewiesen. Die ganze Komposition hat einen
ideellen, absichtvvllen Charakter, der geschichtliche Stoff ist nur der Reflex oder
die versinnlichcnde Hülle des dogmatischen Grundgedankens. Und zwar besteht
nun die durch das Ganze sich durchziehende Idee in dem Gegensatze Jesu als
des in der Welt erschienenen göttlichen Licht- und Lebensprincips zu der jüdischen
Well, in welcher das Princip der Finsterniß und des Unglaubens repräsentirt
ist. Mit dem Eintreten des göttlichen Worts (Logos) in das Fleisch beginnt
der große Kampf zwischen Licht und Finsterniß, Leben und Tod, Geist und
Fleisch, und nun wickelt sich in den Thatsachen des Lebens Jesu dieser Gegen¬
satz als ein von Moment zu Moment fortschreitender Proceß ab, der im letzten
Aufenhalt Jesu zu Jerusalem sich zu seinem dramatischen Höhepunkt erhebt und
in Tod und Auferstehung seinen Abschluß erhält. Unter diesem Gesichtspunkt
steht alles Thatsächliche, was der Evangelist aus der Tradition aufgenommen
oder umgebildet oder frei geschaffen hat. Und von hier aus fällt nun auch
auf die Abweichungen des evangelischen Stoffs von dem der übrigen Evangelien
erst das rechte Licht. Von hier aus läßt sich die relative Glaubwürdigkeit der
einen oder der andern Darstellung beurtheile», jetzt erst ergeben sich für den
geistigen Kreis, aus welchem es hervorgegangen ist, für die Zeit der Abfassung,
für den Verfasser bestimmtere Anhaltpunkte. Und nun treffen alle Momente zu¬
sammen: die Ausbildung der Logoslehre, das Verhältniß zu der schroff juden¬
christlichen Offenbarung des Johannes, die Beziehungen zu den gnostischen Ideen
und zu dem Streit über die Passahfeier, dazu endlich die Beschaffenheit der
äußeren Zeugnisse — alles weist darauf hin, daß das Evangelium nicht von
dem Sohn des Zebedcius geschrieben ist, sondern als letzte und reifste Frucht
des Entwickelungsgangs, welchen das urchristliche Bewußtsein genommen, der
zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts angehört. Von seinem fortgeschrittenen
christlichen Standpunkt aus und in der Ueberzeugung, den wahren Geist des
Christenthums und Christi besser als die noch im Judenthum befangenen älteren
Evangelisten gefaßt zu haben, konnte sich der alexandrinisch gelehrte Verfasser
berechtigt glauben, die evangelische Geschichte umzuändern, Jesus Reden in den
Mund zu legen, die seinem .fortgeschrittenen Standpunkt entsprechen, ja sich
selbst als den Schoß- und Bufenjünger Jesu, wenn nicht ausdrücklich anzugeben,
doch deutlich genug errathen zu lassen.

Von da aus wandte sich dann Baur Schritt für Schritt rückwärts zu den
drei ersten Evangelien. Die Analyse des JohanneSevangeliums hatte gezeigt,
daß ihm gegenüber die synoptischen Evangelien die ursprünglicheren und glaub¬
würdigeren sind. Nur um so mehr kam es nun aber darauf an, nachzusehen,
ob sich nicht auch bei ihnen ein dogmatisches Interesse verrathe, welches auf
ihre Geschichtserzählung Einfluß gewonnen hat. Wie verhielten sie sich, dies


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/148>, abgerufen am 23.07.2024.