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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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vollen Wesenheit von ihrem eigenen Standpunkt aus zu verstehen und zu
würdigen. Für jene Stirnseiten der Tempel hat der Grieche keine psycholo¬
gischen feinen Gemälde verwendet, er zeichnet die ruhige Kraft oder den Con¬
flict gewaltiger Kräfte hinein. Aus den Giebelfeldern soll wie aus olympischer
Höhe ein Abglanz der göttlichen Majestät herableuchten und diese weithin
verkünden."

Der Verfasser scheint geneigt eine Aufstellung zwischen Säulen oder in
Hallen anzunehmen, ohne jedoch das letzte Wort der Entscheidung aussprechen
zu wollen.

Der schwierigste der drei großen Abschnitte des Buches ist der letzte, wel¬
cher die Untersuchungen über den Niobemythus in seiner ethnographischen und
inneren Bedeutung enthält. Auf einer Wanderung durch die griechischen Länder
geht der Verfasser den Sagcnspuren der Niobe nach, die sich über ganz Hellas
verbreiten und an einzelnen Punkten abgeschlossene Kreise bilden, welche sowohl
unter sich als auch mit fremden Sagen auf die wunderbarste Weise verknüpft
und gekreuzt, endlich ihren gemeinsamen Schlußpunkt da finden, wo sie ihren
Ursprung haben, an der asiatischen Küste, deren nahe Beziehungen zu Griechen¬
land hierdurch einen neuen Beleg finden.

Es gilt dem Verfasser "den ethnographischen Bereich allseitig auszubeuten,
das ganze Gewebe in einfache Elemente aufzulösen und zugleich den Nachweis
der Verwebung der Sagen aus den historischen Verhältnissen verschiedener Locale
und Stämme, so wie aus der Verwandtschaft der Mythenkreise unter sich zu
führen." Nur aus diese Weise glaubt er endlich den Mythus selbst in seiner
Ursprünglichkeit, in seiner das Volk dunkel aber mächtig beherrschenden Gewalt
erfassen zu können.

Eine nur annäherungsweise befriedigende kurze Uebersicht der gelehrten Unter¬
suchung zu geben, welche die Niobcsage auf ihren vielverschlungenen Pfaden ver¬
folgt, würde vielleicht auch für eine streng fachwissenschaftlich gehaltene Darstellung
nicht ohne Schwierigkeit sein, da die Wendepunkte, welche hier entscheidend sind,
- mehrentheils an locale oder geschichtliche Detailstudien sich knüpfen und aus dem Zu¬
sammenhang ohne Schaden oder Mißverständniß nicht leicht abgelöst werden tonnen.
Der Verfasser zeigt zunächst die Niobe als pelasgische Urgestalt, als Phoroncus-
tochter in Argos. Als Tantalvstind erscheint sie in der messenischen Sage und
durch ihre Verpflanzung nach Theben verknüpft sie den Sagenkreis der Pelo-
piden mit dem des Kadmos. Beziehungen ältester Naturanschauungen, von der
lebenschaffenden Kraft des Wassers, der nahrungverlcihenden, an vergänglicher
Kindcrfülle so reichen Erde verbinden sich in der Gestalt der Niobe mit den
Ueberlieferungen von der ersten menschlichen Cultur und Geistesbildung. Aus
dem Gegensatz göttlicher und menschlicher Natur in ihr ist die erschütternde
Katastrophe ihres Schicksals hergeleitet. Am Sipylos, dem heiligen Götter-


vollen Wesenheit von ihrem eigenen Standpunkt aus zu verstehen und zu
würdigen. Für jene Stirnseiten der Tempel hat der Grieche keine psycholo¬
gischen feinen Gemälde verwendet, er zeichnet die ruhige Kraft oder den Con¬
flict gewaltiger Kräfte hinein. Aus den Giebelfeldern soll wie aus olympischer
Höhe ein Abglanz der göttlichen Majestät herableuchten und diese weithin
verkünden."

Der Verfasser scheint geneigt eine Aufstellung zwischen Säulen oder in
Hallen anzunehmen, ohne jedoch das letzte Wort der Entscheidung aussprechen
zu wollen.

Der schwierigste der drei großen Abschnitte des Buches ist der letzte, wel¬
cher die Untersuchungen über den Niobemythus in seiner ethnographischen und
inneren Bedeutung enthält. Auf einer Wanderung durch die griechischen Länder
geht der Verfasser den Sagcnspuren der Niobe nach, die sich über ganz Hellas
verbreiten und an einzelnen Punkten abgeschlossene Kreise bilden, welche sowohl
unter sich als auch mit fremden Sagen auf die wunderbarste Weise verknüpft
und gekreuzt, endlich ihren gemeinsamen Schlußpunkt da finden, wo sie ihren
Ursprung haben, an der asiatischen Küste, deren nahe Beziehungen zu Griechen¬
land hierdurch einen neuen Beleg finden.

Es gilt dem Verfasser „den ethnographischen Bereich allseitig auszubeuten,
das ganze Gewebe in einfache Elemente aufzulösen und zugleich den Nachweis
der Verwebung der Sagen aus den historischen Verhältnissen verschiedener Locale
und Stämme, so wie aus der Verwandtschaft der Mythenkreise unter sich zu
führen." Nur aus diese Weise glaubt er endlich den Mythus selbst in seiner
Ursprünglichkeit, in seiner das Volk dunkel aber mächtig beherrschenden Gewalt
erfassen zu können.

Eine nur annäherungsweise befriedigende kurze Uebersicht der gelehrten Unter¬
suchung zu geben, welche die Niobcsage auf ihren vielverschlungenen Pfaden ver¬
folgt, würde vielleicht auch für eine streng fachwissenschaftlich gehaltene Darstellung
nicht ohne Schwierigkeit sein, da die Wendepunkte, welche hier entscheidend sind,
- mehrentheils an locale oder geschichtliche Detailstudien sich knüpfen und aus dem Zu¬
sammenhang ohne Schaden oder Mißverständniß nicht leicht abgelöst werden tonnen.
Der Verfasser zeigt zunächst die Niobe als pelasgische Urgestalt, als Phoroncus-
tochter in Argos. Als Tantalvstind erscheint sie in der messenischen Sage und
durch ihre Verpflanzung nach Theben verknüpft sie den Sagenkreis der Pelo-
piden mit dem des Kadmos. Beziehungen ältester Naturanschauungen, von der
lebenschaffenden Kraft des Wassers, der nahrungverlcihenden, an vergänglicher
Kindcrfülle so reichen Erde verbinden sich in der Gestalt der Niobe mit den
Ueberlieferungen von der ersten menschlichen Cultur und Geistesbildung. Aus
dem Gegensatz göttlicher und menschlicher Natur in ihr ist die erschütternde
Katastrophe ihres Schicksals hergeleitet. Am Sipylos, dem heiligen Götter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/112>, abgerufen am 25.08.2024.