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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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wohl eine passende Stelle gewesen sein für die Jdealdarstellung der jugendlichen
Opfer des Götterzvrnes, die Niobiden.

Die Aufstellung dieser Statuengruppe, sei es an ihrem ursprünglichen
Standorte oder in dem Apollotempel zu Rom, ist eine Frage, welche das
innerste Wesen der Kunst berührt und durch ihre vielfachen Ncdenbeziehungen
zugleich ein allgemein culturgeschichtliches Interesse in Anspruch nimmt. Seit
langer Zeit war sie ein Streitpunkt gelehrter Erörterungen. Kaum einer der
namhaften Kunsthistoriker hat sich ihr völlig entzogen. Ob Giebclaufstellung
an der äußern Fronte des Tempels, ob im Innern desselben Anordnung im
Halbkreis, zwischen Säulen, in Hallen oder Nischen -- jede dieser Aufstellungen
ist vielfach vertheidigt und bestritten, keine aber bis jetzt als unzweifelhaft er¬
wiesen, angenommen worden.

An diesem Hauptpunkt des Werkes angelangt, lassen wir jedoch den Ver¬
fasser selbst sprechen, der nach eindringlicher Erwähnung der architektonischen
Schwierigkeiten einer Giebelaufstellung S. 223--26 mit folgenden Worten fort¬
fährt: "Wie wir linear einer großen Gleichmäßigkeit der Bewegungen in der
Gruppe der Niobiden begegnen, dazwischen allerdings mehre Knoten- und
Haltpunkte sich finden, endlich ein gewaltiger Höhenpunkt uns vor Augen tritt,
so ist im geistigen Gebiete durch alle Glieder gleichartig ein sehr hoher Grad
des individuellsten Pathos ausgegossen, das seinen Gipfel, aber auch seine Aus¬
gleichung in der Gruppe von der Mutter und dem jüngsten Kinde findet.
Wir leiden und bangen mit jedem Einzelnen und zwar auf seine eigene Weise;
allen ist der Tod so unmittelbar nahe, alle sind von so edler Art, da giebt
es keinen eigentlichen Hauptvorgang, keine theilnehmenden Zuschauer und ruhige
Zeugen; jeder ist Spieler in der gewaltigen Tragödie. Die Tochter im Schoße
der Mutter ist an und für sich nicht bedeutsamer, nicht mehr beklagenswert)
als alle ihre Geschwister. In der Mutter spiegelt sich noch einmal das ganze
gesammte Leid der Reihe ihrer Kinder ab."

"Durchmustern wir die Reihe der uns bekannten Giebeldarstellungen, Wie
verschieden von ihnen allen ist die Niobidcngruppe! Wir haben zunächst und
können nicht haben die im Tempel verehrten Gottheiten; aber wir haben auch
nichts, was sie repräsentirt, nicht heroische Gestalten, die in ihrem Schutze
stehen, für sie kämpfen, kein Symbol, um das sich die Gestalten gruppiren.
Unser wahres Interesse wird nicht geweckt für jene vorauszusetzende göttliche
Macht, nicht für die Vollziehung eines göttlichen Strafgerichtes. für die Macht¬
erweisungen des Apollo, nein, unser Herz schlägt nur für diese in Jugendschöne
und Geistesadel dahinsinkcnde Familie, für diese immer sich steigernden, in
der Mutter sich gipfelnden Seelenkämpfe. Nein, diese Niobiden sind nicht als
Motto, als Ueberschrift, als eine religiös officielle Ermahnung gebildet, nicht
sollen wir erst einen sublimirten Gedanken herausziehen, sie sind nur in ihrer


wohl eine passende Stelle gewesen sein für die Jdealdarstellung der jugendlichen
Opfer des Götterzvrnes, die Niobiden.

Die Aufstellung dieser Statuengruppe, sei es an ihrem ursprünglichen
Standorte oder in dem Apollotempel zu Rom, ist eine Frage, welche das
innerste Wesen der Kunst berührt und durch ihre vielfachen Ncdenbeziehungen
zugleich ein allgemein culturgeschichtliches Interesse in Anspruch nimmt. Seit
langer Zeit war sie ein Streitpunkt gelehrter Erörterungen. Kaum einer der
namhaften Kunsthistoriker hat sich ihr völlig entzogen. Ob Giebclaufstellung
an der äußern Fronte des Tempels, ob im Innern desselben Anordnung im
Halbkreis, zwischen Säulen, in Hallen oder Nischen — jede dieser Aufstellungen
ist vielfach vertheidigt und bestritten, keine aber bis jetzt als unzweifelhaft er¬
wiesen, angenommen worden.

An diesem Hauptpunkt des Werkes angelangt, lassen wir jedoch den Ver¬
fasser selbst sprechen, der nach eindringlicher Erwähnung der architektonischen
Schwierigkeiten einer Giebelaufstellung S. 223—26 mit folgenden Worten fort¬
fährt: „Wie wir linear einer großen Gleichmäßigkeit der Bewegungen in der
Gruppe der Niobiden begegnen, dazwischen allerdings mehre Knoten- und
Haltpunkte sich finden, endlich ein gewaltiger Höhenpunkt uns vor Augen tritt,
so ist im geistigen Gebiete durch alle Glieder gleichartig ein sehr hoher Grad
des individuellsten Pathos ausgegossen, das seinen Gipfel, aber auch seine Aus¬
gleichung in der Gruppe von der Mutter und dem jüngsten Kinde findet.
Wir leiden und bangen mit jedem Einzelnen und zwar auf seine eigene Weise;
allen ist der Tod so unmittelbar nahe, alle sind von so edler Art, da giebt
es keinen eigentlichen Hauptvorgang, keine theilnehmenden Zuschauer und ruhige
Zeugen; jeder ist Spieler in der gewaltigen Tragödie. Die Tochter im Schoße
der Mutter ist an und für sich nicht bedeutsamer, nicht mehr beklagenswert)
als alle ihre Geschwister. In der Mutter spiegelt sich noch einmal das ganze
gesammte Leid der Reihe ihrer Kinder ab."

„Durchmustern wir die Reihe der uns bekannten Giebeldarstellungen, Wie
verschieden von ihnen allen ist die Niobidcngruppe! Wir haben zunächst und
können nicht haben die im Tempel verehrten Gottheiten; aber wir haben auch
nichts, was sie repräsentirt, nicht heroische Gestalten, die in ihrem Schutze
stehen, für sie kämpfen, kein Symbol, um das sich die Gestalten gruppiren.
Unser wahres Interesse wird nicht geweckt für jene vorauszusetzende göttliche
Macht, nicht für die Vollziehung eines göttlichen Strafgerichtes. für die Macht¬
erweisungen des Apollo, nein, unser Herz schlägt nur für diese in Jugendschöne
und Geistesadel dahinsinkcnde Familie, für diese immer sich steigernden, in
der Mutter sich gipfelnden Seelenkämpfe. Nein, diese Niobiden sind nicht als
Motto, als Ueberschrift, als eine religiös officielle Ermahnung gebildet, nicht
sollen wir erst einen sublimirten Gedanken herausziehen, sie sind nur in ihrer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/111>, abgerufen am 23.07.2024.