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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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einem Umstände unterstützt, der in Wahrheit nicht Umstand, sondern die Haupt¬
sache genannt werden muß. In ihnen lebte ein bestimmter religiöser Inhalt,
der seinen entsprechenden Ausdruck in ihrer Kirche fand. Dieser Punkt ist schon
so oft besprochen, so einsichtig auseinandergesetzt, daß jede weitere Darlegung
überflüssig wäre. Hier genüge der Hinweis darauf, daß gerade unsre Zeit
bei einem unläugbar vorhandenen religiösen Bedürfniß im Wesentlichen mit
den ererbten Formen gebrochen hat, welche noch unsern Vätern ein Aus¬
druck für ihr Bedürfniß waren. Seit Jahrzehnten befindet sich unsere Kirche
in einer wunderlichen Lage den Besten unsrer Nation gegenüber. Halb muß
und will sie sie verwerfen und verurtheilen, halb wagt sie es nicht, weil sie
wohl fühlt, daß sie bannt sich den Boden unter den Füßen wegziehen würde.
Und so Pflegt sie denn diese Männer meist zu ignoriren, oder im besten Falle
mit seltsamen Vertheidigungen und Anklagen ihres Christenthums zu be¬
helligen. Die Besten wieder antworten auf eine Weise, die nach dem alten
Spruche zwar auch eine Antwort, aber sicherlich keine sehr fördernde ist -- sie
antworten gar nicht. Dieses Verhältniß, welches sich durch die höheren urtd nie¬
deren Schichten des Volkes ausbreitet und dort nur zu oft zum Deckmantel
für geistige und sittliche Faulheit, für schwächliche Leichtfertigkeit und rohe
Genußsucht dient, muß aller geistlichen Musik bei den Musikern und den Hörern
allmälig die Möglichkeit, geschweige denn die Nothwendigkeit der Existenz ent¬
ziehen. Und so finden wir kaum ein zweites Kunstgebiet, in welchem so unsicher
und experimentirend producirt wird, wie gerade das der geistlichen Musik.
Während auch hier nur einige Wenige in einfach herzlicher Frömmigkeit, wie sie
unabhängig von Konfession und Kirche in der tiefsten Seele eines jeden tüch¬
tigen Mannes lebt, den friedlichen und freudigen, reuigen und bußfertigen,
schmerzerfüllter und dankbaren Stimmungen ihrer Seele musikalischen Ausdruck
verleihen, versucht hier eine ganze Schaar den zuweilen schon leise romantischen
Ton der mendelssohnschen religiösen Musik nachzuahmen und verwendet dabei
Waldhörner und Harfen nebst den obligaten gedämpften Geigen gern mehr als
die naive und reine Frömmigkeit vertragen mag. Andre wieder, denen es ein¬
geleuchtet hat, daß von dem Schumannschen ctiss irae in seiner Faustmusik eine
neue Aera der geistlichen Musik beginne, übertragen die Eigenthümlichkeiten
dieses Meisters auch auf dieses Gebiet und scheinen zu glauben, daß jene
wundersame Mischung von naiven und Sentimentalen, jene Dämmerung der
Empfindungen, welche gerade der Musik Schumanns charakteristisch ist und ihr eine
unwiderstehliche Anziehungskraft, den Schimmer des Interessanten verleiht, daß
dieses alles auch der geistlichen Musik angemessen sein müsse. Ihr Vorbild
selbst ist in dem erwähnten Zieh iiAv nicht in jenen Irrthum verfallen.
Schumanns künstlerischer Sinn lehrte ihn die Wahrheit, daß auf religiösem
Gebiete die Musik mit durchaus klaren und fertigen Stimmungen zu thun ha-


Orenjboten I. 1864, 9

einem Umstände unterstützt, der in Wahrheit nicht Umstand, sondern die Haupt¬
sache genannt werden muß. In ihnen lebte ein bestimmter religiöser Inhalt,
der seinen entsprechenden Ausdruck in ihrer Kirche fand. Dieser Punkt ist schon
so oft besprochen, so einsichtig auseinandergesetzt, daß jede weitere Darlegung
überflüssig wäre. Hier genüge der Hinweis darauf, daß gerade unsre Zeit
bei einem unläugbar vorhandenen religiösen Bedürfniß im Wesentlichen mit
den ererbten Formen gebrochen hat, welche noch unsern Vätern ein Aus¬
druck für ihr Bedürfniß waren. Seit Jahrzehnten befindet sich unsere Kirche
in einer wunderlichen Lage den Besten unsrer Nation gegenüber. Halb muß
und will sie sie verwerfen und verurtheilen, halb wagt sie es nicht, weil sie
wohl fühlt, daß sie bannt sich den Boden unter den Füßen wegziehen würde.
Und so Pflegt sie denn diese Männer meist zu ignoriren, oder im besten Falle
mit seltsamen Vertheidigungen und Anklagen ihres Christenthums zu be¬
helligen. Die Besten wieder antworten auf eine Weise, die nach dem alten
Spruche zwar auch eine Antwort, aber sicherlich keine sehr fördernde ist — sie
antworten gar nicht. Dieses Verhältniß, welches sich durch die höheren urtd nie¬
deren Schichten des Volkes ausbreitet und dort nur zu oft zum Deckmantel
für geistige und sittliche Faulheit, für schwächliche Leichtfertigkeit und rohe
Genußsucht dient, muß aller geistlichen Musik bei den Musikern und den Hörern
allmälig die Möglichkeit, geschweige denn die Nothwendigkeit der Existenz ent¬
ziehen. Und so finden wir kaum ein zweites Kunstgebiet, in welchem so unsicher
und experimentirend producirt wird, wie gerade das der geistlichen Musik.
Während auch hier nur einige Wenige in einfach herzlicher Frömmigkeit, wie sie
unabhängig von Konfession und Kirche in der tiefsten Seele eines jeden tüch¬
tigen Mannes lebt, den friedlichen und freudigen, reuigen und bußfertigen,
schmerzerfüllter und dankbaren Stimmungen ihrer Seele musikalischen Ausdruck
verleihen, versucht hier eine ganze Schaar den zuweilen schon leise romantischen
Ton der mendelssohnschen religiösen Musik nachzuahmen und verwendet dabei
Waldhörner und Harfen nebst den obligaten gedämpften Geigen gern mehr als
die naive und reine Frömmigkeit vertragen mag. Andre wieder, denen es ein¬
geleuchtet hat, daß von dem Schumannschen ctiss irae in seiner Faustmusik eine
neue Aera der geistlichen Musik beginne, übertragen die Eigenthümlichkeiten
dieses Meisters auch auf dieses Gebiet und scheinen zu glauben, daß jene
wundersame Mischung von naiven und Sentimentalen, jene Dämmerung der
Empfindungen, welche gerade der Musik Schumanns charakteristisch ist und ihr eine
unwiderstehliche Anziehungskraft, den Schimmer des Interessanten verleiht, daß
dieses alles auch der geistlichen Musik angemessen sein müsse. Ihr Vorbild
selbst ist in dem erwähnten Zieh iiAv nicht in jenen Irrthum verfallen.
Schumanns künstlerischer Sinn lehrte ihn die Wahrheit, daß auf religiösem
Gebiete die Musik mit durchaus klaren und fertigen Stimmungen zu thun ha-


Orenjboten I. 1864, 9
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[0075] einem Umstände unterstützt, der in Wahrheit nicht Umstand, sondern die Haupt¬ sache genannt werden muß. In ihnen lebte ein bestimmter religiöser Inhalt, der seinen entsprechenden Ausdruck in ihrer Kirche fand. Dieser Punkt ist schon so oft besprochen, so einsichtig auseinandergesetzt, daß jede weitere Darlegung überflüssig wäre. Hier genüge der Hinweis darauf, daß gerade unsre Zeit bei einem unläugbar vorhandenen religiösen Bedürfniß im Wesentlichen mit den ererbten Formen gebrochen hat, welche noch unsern Vätern ein Aus¬ druck für ihr Bedürfniß waren. Seit Jahrzehnten befindet sich unsere Kirche in einer wunderlichen Lage den Besten unsrer Nation gegenüber. Halb muß und will sie sie verwerfen und verurtheilen, halb wagt sie es nicht, weil sie wohl fühlt, daß sie bannt sich den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Und so Pflegt sie denn diese Männer meist zu ignoriren, oder im besten Falle mit seltsamen Vertheidigungen und Anklagen ihres Christenthums zu be¬ helligen. Die Besten wieder antworten auf eine Weise, die nach dem alten Spruche zwar auch eine Antwort, aber sicherlich keine sehr fördernde ist — sie antworten gar nicht. Dieses Verhältniß, welches sich durch die höheren urtd nie¬ deren Schichten des Volkes ausbreitet und dort nur zu oft zum Deckmantel für geistige und sittliche Faulheit, für schwächliche Leichtfertigkeit und rohe Genußsucht dient, muß aller geistlichen Musik bei den Musikern und den Hörern allmälig die Möglichkeit, geschweige denn die Nothwendigkeit der Existenz ent¬ ziehen. Und so finden wir kaum ein zweites Kunstgebiet, in welchem so unsicher und experimentirend producirt wird, wie gerade das der geistlichen Musik. Während auch hier nur einige Wenige in einfach herzlicher Frömmigkeit, wie sie unabhängig von Konfession und Kirche in der tiefsten Seele eines jeden tüch¬ tigen Mannes lebt, den friedlichen und freudigen, reuigen und bußfertigen, schmerzerfüllter und dankbaren Stimmungen ihrer Seele musikalischen Ausdruck verleihen, versucht hier eine ganze Schaar den zuweilen schon leise romantischen Ton der mendelssohnschen religiösen Musik nachzuahmen und verwendet dabei Waldhörner und Harfen nebst den obligaten gedämpften Geigen gern mehr als die naive und reine Frömmigkeit vertragen mag. Andre wieder, denen es ein¬ geleuchtet hat, daß von dem Schumannschen ctiss irae in seiner Faustmusik eine neue Aera der geistlichen Musik beginne, übertragen die Eigenthümlichkeiten dieses Meisters auch auf dieses Gebiet und scheinen zu glauben, daß jene wundersame Mischung von naiven und Sentimentalen, jene Dämmerung der Empfindungen, welche gerade der Musik Schumanns charakteristisch ist und ihr eine unwiderstehliche Anziehungskraft, den Schimmer des Interessanten verleiht, daß dieses alles auch der geistlichen Musik angemessen sein müsse. Ihr Vorbild selbst ist in dem erwähnten Zieh iiAv nicht in jenen Irrthum verfallen. Schumanns künstlerischer Sinn lehrte ihn die Wahrheit, daß auf religiösem Gebiete die Musik mit durchaus klaren und fertigen Stimmungen zu thun ha- Orenjboten I. 1864, 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/75>, abgerufen am 24.07.2024.