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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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den solle, daß für geistliche Musik, welche aus der Seele der Gemeinde heraus-
compvnirt werde" muß. nur derartige Stimmungen verwendbar sind, und daß
selbst beim geistlichen Liede des Einzelnen eine einheitliche und abgeschlossene
Empfindung das treibende Element ist.

Tiefe und lautere Frömmigkeit wird immer ein Erbgut unseres Volkes
bleiben und immer in der Musik den ihr entsprechenden. Ausdruck finden.
Geistliche Musik aber von jener großartigen, fast herben Schönheit, wie sie Bach
und Händel geschaffen -- denn hierin dürfen wir die beiden nebeneinander¬
stellen werden wir nicht wieder erhalten, so lange nicht unser Volk wahr¬
hafte, sein ganzes Leben und Sein berührende und bewegende Erlebnisse durch¬
gemacht hat. Das Große und Erhabene wird durch Eines Menschen Mund
verkündet, aber der Inhalt seiner Botschaft muß in seinem Volte vorgebildet
sein, alles, was mit dem Erhabenen zusammenhängt, muß wenn nicht durch, so
doch wenigstens für die Gesammtheit und in ihrem Geiste geschehen. Wir ge¬
denken hierbei eines bekannten Vorfalles. Als nach dem blutigen Tage bei
Leuthen Friedrichs des Großen Heer auf dem Erdboden gelagert war und alles
still geworden, da stimmte ein Soldat plötzlich an: Nun danket alle Gott!
Seine Kameraden, die Negimentsmusik fielen ein, und bald brausten die Klänge
des alten Chorales durch die stille Nacht hin über die blutige Wahlstatt, ge¬
sungen von tausend und abertausend Kehlen. Man wird uns verstehen, wenn
wir sagen, daß der Componist großer geistlicher Musik jenem einzelnen Soldaten
nachahmen solle, und daß eine Schlacht bei Leuthen die Grundbedingung ist.

Wenden wir uns nun zur Symphonie, so ist vor Allem Eines zu consta-
tiren, was als Frucht der letzten zehn Jahre bezeichnet werden darf: die Nach¬
ahmung Mendelssohns hat im Wesentlichen ihr Ende erreicht.

Im Jahre 1852 war in diesen Blättern bei Erwähnung einiger neuer
Symphonien folgendes zu lesen: "dieselbe Autorität hat beide zum Schaf¬
fen angetrieben. Man findet in ihnen von neuem den traurigen Beweis, daß
die jetzt so allgemein verbreitete Formengeschicklichteit alle höhere Begeisterung
ertödtet. und daß wir armen Epigonen nur in kunstvollem Spiele die Bau¬
steine, welche unsre guten Meister uns vererbt haben, zu außerordentlich ge¬
zierten Gebäuden zusammensetzen. Wir sind auf den Punkt gekommen, daß
die Kunst alles Wunderbare und Göttliche verliert: Werke, die früher in dem
Leben des gereiften und erfahrenen Tvnsetzers als Ereignisse von Bedeutung
betrachtet wurden, gelingen jetzt den Händen unerfahrener Tironen." --
"Die schon so oft beobachtete Erscheinung, daß gerade die mendelssvhnsche Art
zu schreiben am meisten zum Copire" reizt, weil in ihr eine ganze Menge
leichterfaßlicher Momente liegen, hat sich auch in diesen beiden Symphonien
bestätigt. Es ist wahrscheinlich, daß noch durch lange Zeit wir Gleiches er¬
leben werden, bis wieder ein anderer Heros entsteht, der die untergeordneten


den solle, daß für geistliche Musik, welche aus der Seele der Gemeinde heraus-
compvnirt werde» muß. nur derartige Stimmungen verwendbar sind, und daß
selbst beim geistlichen Liede des Einzelnen eine einheitliche und abgeschlossene
Empfindung das treibende Element ist.

Tiefe und lautere Frömmigkeit wird immer ein Erbgut unseres Volkes
bleiben und immer in der Musik den ihr entsprechenden. Ausdruck finden.
Geistliche Musik aber von jener großartigen, fast herben Schönheit, wie sie Bach
und Händel geschaffen — denn hierin dürfen wir die beiden nebeneinander¬
stellen werden wir nicht wieder erhalten, so lange nicht unser Volk wahr¬
hafte, sein ganzes Leben und Sein berührende und bewegende Erlebnisse durch¬
gemacht hat. Das Große und Erhabene wird durch Eines Menschen Mund
verkündet, aber der Inhalt seiner Botschaft muß in seinem Volte vorgebildet
sein, alles, was mit dem Erhabenen zusammenhängt, muß wenn nicht durch, so
doch wenigstens für die Gesammtheit und in ihrem Geiste geschehen. Wir ge¬
denken hierbei eines bekannten Vorfalles. Als nach dem blutigen Tage bei
Leuthen Friedrichs des Großen Heer auf dem Erdboden gelagert war und alles
still geworden, da stimmte ein Soldat plötzlich an: Nun danket alle Gott!
Seine Kameraden, die Negimentsmusik fielen ein, und bald brausten die Klänge
des alten Chorales durch die stille Nacht hin über die blutige Wahlstatt, ge¬
sungen von tausend und abertausend Kehlen. Man wird uns verstehen, wenn
wir sagen, daß der Componist großer geistlicher Musik jenem einzelnen Soldaten
nachahmen solle, und daß eine Schlacht bei Leuthen die Grundbedingung ist.

Wenden wir uns nun zur Symphonie, so ist vor Allem Eines zu consta-
tiren, was als Frucht der letzten zehn Jahre bezeichnet werden darf: die Nach¬
ahmung Mendelssohns hat im Wesentlichen ihr Ende erreicht.

Im Jahre 1852 war in diesen Blättern bei Erwähnung einiger neuer
Symphonien folgendes zu lesen: „dieselbe Autorität hat beide zum Schaf¬
fen angetrieben. Man findet in ihnen von neuem den traurigen Beweis, daß
die jetzt so allgemein verbreitete Formengeschicklichteit alle höhere Begeisterung
ertödtet. und daß wir armen Epigonen nur in kunstvollem Spiele die Bau¬
steine, welche unsre guten Meister uns vererbt haben, zu außerordentlich ge¬
zierten Gebäuden zusammensetzen. Wir sind auf den Punkt gekommen, daß
die Kunst alles Wunderbare und Göttliche verliert: Werke, die früher in dem
Leben des gereiften und erfahrenen Tvnsetzers als Ereignisse von Bedeutung
betrachtet wurden, gelingen jetzt den Händen unerfahrener Tironen." —
„Die schon so oft beobachtete Erscheinung, daß gerade die mendelssvhnsche Art
zu schreiben am meisten zum Copire» reizt, weil in ihr eine ganze Menge
leichterfaßlicher Momente liegen, hat sich auch in diesen beiden Symphonien
bestätigt. Es ist wahrscheinlich, daß noch durch lange Zeit wir Gleiches er¬
leben werden, bis wieder ein anderer Heros entsteht, der die untergeordneten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/76>, abgerufen am 24.07.2024.