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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Der andre Theil der Arbeit jener Zeit ruht in der musikalischen Produc-
tion, welche auf allen Gebieten thätig geblieben ist. Es wurde schon ange¬
deutet, daß wir hier weit weniger Ursache haben, mit besonderer Befriedigung
zurückzublicken; die Erklärungsgründe aber liegen nicht fern.

Einerseits hat sich ein gewisses Können so ausgebreitet, bestimmte Kunst¬
formen sind so sehr in Fleisch und Blut der Einzelnen übergegangen, daß
daraus eine Massenhaftigkeit der Production entstanden ist, die nur durch das
Verdauungsvermögen des Publicums übertroffen wird. Dies gilt besonders
vom Liede, welches durch Schubert, Mendelssohn und Schumann einen neuen
Aufschwung genommen hatte. Deutschland lebt sogar in der sagenhaften Geo¬
graphie der Franzosen als das Land der Lieder, wobei diese Nation freilich
wohl mehr an eine gewisse Fülle von lyrischen Dichtern denkt, deren wir uns
erfreuen. Fast scheint es, als solle bei uns jetzt eine neue Periode des volks¬
mäßigen Kunstliedes erstehen, vermöge deren jeder mindestens ein Heft mehr
oder minder sangbarer, zumeist aber musikalisch werthloser Lieder abgestoßen
haben muß, bevor er die toM virilis anlegt. Allerdings gehört dies alles
unter die gewöhnliche Tagesprvduction und kommt und geht wie Sommer und
Winter; allein neben dem großen Haufen derer, die unbefangen heiter die
mendelssohnsche oder die schumannsche Harfe schlagen, besteht doch ein an
sehnlicher und würdiger Stamm von Künstlern, welche aus dem eignen Herzen
heraus zu singen wissen und theils das volksthümliche, theils das Kunstlied
in schönem Sinne Pflegen. Und gewiß ist gerade das Lied eine angemessene
und würdige Aufgabe für eine Zeit, welche es in dem "nachempfinden" so
weit gebracht hat wie die unsrige. Sei es, daß der Künstler das Gedicht nur
zum Träger seines eignen modernen und subjectiven musikalischen Inhaltes
macht und so die Musik ausdrücklich in den Vordergrund treten läßt, ohne
den Anspruch auf eine endgiltige Lösung des Problems zu erheben; sei es.
daß er sich ganz und gar in Sinn und Geist der Worte zu versenken sucht, in
Haltung und Colorit dem persönlichen Wesen des Dichters nahe zu kommen
strebt, das Gedicht singt, wie es der Dichter gesungen haben könnte, oder wie
es das Volk gesungen haben würde, aus dem es eigentlich entsprang; sei es
endlich, daß aus einer glücklichen und künstlerischen Mischung dieser beiden
Weisen ein Ganzes entsteht, wie es so manche der Lieder von M. Hauptmann
und beispielsweise das unübertreffliche schumannsche Lied von Philine: "Singet
nicht in Trauertönen" sind -- immer wird diese künstlerische Thätigkeit der
Liedercomposition dem Wesen unsres Volkes und unsrer Zeit,, dem Drange
nach Verständniß und Vereinigung mit verwandten Naturen gemäß und ent¬
sprechend sein.

Anders ist es auf höheren Kunstgebieten, zumal dem der geistlichen Musik
und der Symphonie. Bei der geistlichen Musik wurden die alten Meister von


Der andre Theil der Arbeit jener Zeit ruht in der musikalischen Produc-
tion, welche auf allen Gebieten thätig geblieben ist. Es wurde schon ange¬
deutet, daß wir hier weit weniger Ursache haben, mit besonderer Befriedigung
zurückzublicken; die Erklärungsgründe aber liegen nicht fern.

Einerseits hat sich ein gewisses Können so ausgebreitet, bestimmte Kunst¬
formen sind so sehr in Fleisch und Blut der Einzelnen übergegangen, daß
daraus eine Massenhaftigkeit der Production entstanden ist, die nur durch das
Verdauungsvermögen des Publicums übertroffen wird. Dies gilt besonders
vom Liede, welches durch Schubert, Mendelssohn und Schumann einen neuen
Aufschwung genommen hatte. Deutschland lebt sogar in der sagenhaften Geo¬
graphie der Franzosen als das Land der Lieder, wobei diese Nation freilich
wohl mehr an eine gewisse Fülle von lyrischen Dichtern denkt, deren wir uns
erfreuen. Fast scheint es, als solle bei uns jetzt eine neue Periode des volks¬
mäßigen Kunstliedes erstehen, vermöge deren jeder mindestens ein Heft mehr
oder minder sangbarer, zumeist aber musikalisch werthloser Lieder abgestoßen
haben muß, bevor er die toM virilis anlegt. Allerdings gehört dies alles
unter die gewöhnliche Tagesprvduction und kommt und geht wie Sommer und
Winter; allein neben dem großen Haufen derer, die unbefangen heiter die
mendelssohnsche oder die schumannsche Harfe schlagen, besteht doch ein an
sehnlicher und würdiger Stamm von Künstlern, welche aus dem eignen Herzen
heraus zu singen wissen und theils das volksthümliche, theils das Kunstlied
in schönem Sinne Pflegen. Und gewiß ist gerade das Lied eine angemessene
und würdige Aufgabe für eine Zeit, welche es in dem „nachempfinden" so
weit gebracht hat wie die unsrige. Sei es, daß der Künstler das Gedicht nur
zum Träger seines eignen modernen und subjectiven musikalischen Inhaltes
macht und so die Musik ausdrücklich in den Vordergrund treten läßt, ohne
den Anspruch auf eine endgiltige Lösung des Problems zu erheben; sei es.
daß er sich ganz und gar in Sinn und Geist der Worte zu versenken sucht, in
Haltung und Colorit dem persönlichen Wesen des Dichters nahe zu kommen
strebt, das Gedicht singt, wie es der Dichter gesungen haben könnte, oder wie
es das Volk gesungen haben würde, aus dem es eigentlich entsprang; sei es
endlich, daß aus einer glücklichen und künstlerischen Mischung dieser beiden
Weisen ein Ganzes entsteht, wie es so manche der Lieder von M. Hauptmann
und beispielsweise das unübertreffliche schumannsche Lied von Philine: „Singet
nicht in Trauertönen" sind — immer wird diese künstlerische Thätigkeit der
Liedercomposition dem Wesen unsres Volkes und unsrer Zeit,, dem Drange
nach Verständniß und Vereinigung mit verwandten Naturen gemäß und ent¬
sprechend sein.

Anders ist es auf höheren Kunstgebieten, zumal dem der geistlichen Musik
und der Symphonie. Bei der geistlichen Musik wurden die alten Meister von


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[0074] Der andre Theil der Arbeit jener Zeit ruht in der musikalischen Produc- tion, welche auf allen Gebieten thätig geblieben ist. Es wurde schon ange¬ deutet, daß wir hier weit weniger Ursache haben, mit besonderer Befriedigung zurückzublicken; die Erklärungsgründe aber liegen nicht fern. Einerseits hat sich ein gewisses Können so ausgebreitet, bestimmte Kunst¬ formen sind so sehr in Fleisch und Blut der Einzelnen übergegangen, daß daraus eine Massenhaftigkeit der Production entstanden ist, die nur durch das Verdauungsvermögen des Publicums übertroffen wird. Dies gilt besonders vom Liede, welches durch Schubert, Mendelssohn und Schumann einen neuen Aufschwung genommen hatte. Deutschland lebt sogar in der sagenhaften Geo¬ graphie der Franzosen als das Land der Lieder, wobei diese Nation freilich wohl mehr an eine gewisse Fülle von lyrischen Dichtern denkt, deren wir uns erfreuen. Fast scheint es, als solle bei uns jetzt eine neue Periode des volks¬ mäßigen Kunstliedes erstehen, vermöge deren jeder mindestens ein Heft mehr oder minder sangbarer, zumeist aber musikalisch werthloser Lieder abgestoßen haben muß, bevor er die toM virilis anlegt. Allerdings gehört dies alles unter die gewöhnliche Tagesprvduction und kommt und geht wie Sommer und Winter; allein neben dem großen Haufen derer, die unbefangen heiter die mendelssohnsche oder die schumannsche Harfe schlagen, besteht doch ein an sehnlicher und würdiger Stamm von Künstlern, welche aus dem eignen Herzen heraus zu singen wissen und theils das volksthümliche, theils das Kunstlied in schönem Sinne Pflegen. Und gewiß ist gerade das Lied eine angemessene und würdige Aufgabe für eine Zeit, welche es in dem „nachempfinden" so weit gebracht hat wie die unsrige. Sei es, daß der Künstler das Gedicht nur zum Träger seines eignen modernen und subjectiven musikalischen Inhaltes macht und so die Musik ausdrücklich in den Vordergrund treten läßt, ohne den Anspruch auf eine endgiltige Lösung des Problems zu erheben; sei es. daß er sich ganz und gar in Sinn und Geist der Worte zu versenken sucht, in Haltung und Colorit dem persönlichen Wesen des Dichters nahe zu kommen strebt, das Gedicht singt, wie es der Dichter gesungen haben könnte, oder wie es das Volk gesungen haben würde, aus dem es eigentlich entsprang; sei es endlich, daß aus einer glücklichen und künstlerischen Mischung dieser beiden Weisen ein Ganzes entsteht, wie es so manche der Lieder von M. Hauptmann und beispielsweise das unübertreffliche schumannsche Lied von Philine: „Singet nicht in Trauertönen" sind — immer wird diese künstlerische Thätigkeit der Liedercomposition dem Wesen unsres Volkes und unsrer Zeit,, dem Drange nach Verständniß und Vereinigung mit verwandten Naturen gemäß und ent¬ sprechend sein. Anders ist es auf höheren Kunstgebieten, zumal dem der geistlichen Musik und der Symphonie. Bei der geistlichen Musik wurden die alten Meister von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/74>, abgerufen am 24.07.2024.