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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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bedingt eine völlige Jsolirung von der Außenwelt, und die Geburt jedes Kunst¬
werkes geschieht in geistiger Sammlung als das Werk eines einzigen Menschen.
So berühren sich die großen Geister im Leben, sie greifen in ihren Werken
in einander und gehen doch im Grunde nur nebeneinander her, meist fremd
und kühl einer zum andern gestimmt, immer einer ein unvollkommener Richter
und Beurtheiler des anderen. Für ein so wundersames Zusammenwirken zweier
großen Künstler, wie es bei Goethe und Schiller hervortritt, wird vergeblich
ein zweites Beispiel gesucht werden, am wenigsten wird es die Musikgeschichte
der letzten zwei Jahrhunderte bieten. Und doch sind sie alle nur die Glieder
jenes Ganzen, das zuletzt vor der Nachwelt als die Entwickelungsgeschichte
einer Kunst steht, wenn auch dieses Resultat erst durch die Nachwelt selbst zum
Bewußtsein gebracht wird. Jeder wahrhaft bedeutende Künstler hat eine Feuer¬
probe zu bestehen, die ihm zuweilen mit wahrhaft kleinen gemein ist: die Nach¬
ahmung. Gerade diejenigen, deren eigne Schöpferkraft zu gering oder zu
unausgebildet ist, als daß sie auf eignen Füßen einherwandeln könnten, gerade
sie sind es, welche in ihrem schwächlichen, oft sogar verwerflichen Thun die
Hauptarbeit der Geschichte übernehmen. Sie sondern ohne es zu wollen in
den Werken ihrer Vorbilder das Vergängliche vom Unvergänglichen, das Erzeug-
niß des trivialen Bedürfnisses von dem Kinde ewiger Begeisterung, das Pro-
duct eines zuweilen gemißbrauchten Könnens von dem Werke eines schönen und
guten Wollens ab. Wie oft schon ist es durch die Nachahmer klar geworden,
daß gerade die Züge, denen die Zeitgenossen des Componisten am meisten zu¬
jauchzen, nichts waren, als der Zoll, den der Meister unwillkürlich dem zahlte,
daß er Mensch war und ein Kind seiner Zeit.

Wenn die Nachwelt ihre Aufgabe recht versteht und sich nicht blos um
eines fast elementaren Genießens willen, sondern mit der ernsten Absicht und
dem Drange nach Verständniß mit den Werken der Meister beschäftigt, so wird
auf diesen zwei verschiedenen Wegen ein erwünschter Erfolg nicht fehlen. Nega¬
tives und Positives werden zusammenwirken, und nun erst kann im eigentlichen
Sinne von einem ewigen Besitzthum der Nation gesprochen werden.

Diese kurzen Andeutungen sollten dazu dienen, einen Theil der Arbeit,
welche die letzten zehn Jahre auf dem musikalischen Gebiete gethan, zu kenn¬
zeichnen. Auch hier muß als das bedeutendste Resultat genannt werden die
wachsende und immer verständnisvollere Verehrung des wahrhaft Großen, die ruhi¬
gere und angemessnere Würdigung des Mittelmäßigen, die beginnende historische
Betrachtung ferner oder näherliegender Meister") oder ganzer Kunstepochen.



Wir erwähnen hier nur das vortreffliche Werk von O. Jahr über Mozart, das von
Chrysander üvcr Händel, und die ticfeingreifenden Gescimmtciusgabcn von Bach und Handel,
sowie die Breitkopf und Härtelsche Becthovenausgabe.

bedingt eine völlige Jsolirung von der Außenwelt, und die Geburt jedes Kunst¬
werkes geschieht in geistiger Sammlung als das Werk eines einzigen Menschen.
So berühren sich die großen Geister im Leben, sie greifen in ihren Werken
in einander und gehen doch im Grunde nur nebeneinander her, meist fremd
und kühl einer zum andern gestimmt, immer einer ein unvollkommener Richter
und Beurtheiler des anderen. Für ein so wundersames Zusammenwirken zweier
großen Künstler, wie es bei Goethe und Schiller hervortritt, wird vergeblich
ein zweites Beispiel gesucht werden, am wenigsten wird es die Musikgeschichte
der letzten zwei Jahrhunderte bieten. Und doch sind sie alle nur die Glieder
jenes Ganzen, das zuletzt vor der Nachwelt als die Entwickelungsgeschichte
einer Kunst steht, wenn auch dieses Resultat erst durch die Nachwelt selbst zum
Bewußtsein gebracht wird. Jeder wahrhaft bedeutende Künstler hat eine Feuer¬
probe zu bestehen, die ihm zuweilen mit wahrhaft kleinen gemein ist: die Nach¬
ahmung. Gerade diejenigen, deren eigne Schöpferkraft zu gering oder zu
unausgebildet ist, als daß sie auf eignen Füßen einherwandeln könnten, gerade
sie sind es, welche in ihrem schwächlichen, oft sogar verwerflichen Thun die
Hauptarbeit der Geschichte übernehmen. Sie sondern ohne es zu wollen in
den Werken ihrer Vorbilder das Vergängliche vom Unvergänglichen, das Erzeug-
niß des trivialen Bedürfnisses von dem Kinde ewiger Begeisterung, das Pro-
duct eines zuweilen gemißbrauchten Könnens von dem Werke eines schönen und
guten Wollens ab. Wie oft schon ist es durch die Nachahmer klar geworden,
daß gerade die Züge, denen die Zeitgenossen des Componisten am meisten zu¬
jauchzen, nichts waren, als der Zoll, den der Meister unwillkürlich dem zahlte,
daß er Mensch war und ein Kind seiner Zeit.

Wenn die Nachwelt ihre Aufgabe recht versteht und sich nicht blos um
eines fast elementaren Genießens willen, sondern mit der ernsten Absicht und
dem Drange nach Verständniß mit den Werken der Meister beschäftigt, so wird
auf diesen zwei verschiedenen Wegen ein erwünschter Erfolg nicht fehlen. Nega¬
tives und Positives werden zusammenwirken, und nun erst kann im eigentlichen
Sinne von einem ewigen Besitzthum der Nation gesprochen werden.

Diese kurzen Andeutungen sollten dazu dienen, einen Theil der Arbeit,
welche die letzten zehn Jahre auf dem musikalischen Gebiete gethan, zu kenn¬
zeichnen. Auch hier muß als das bedeutendste Resultat genannt werden die
wachsende und immer verständnisvollere Verehrung des wahrhaft Großen, die ruhi¬
gere und angemessnere Würdigung des Mittelmäßigen, die beginnende historische
Betrachtung ferner oder näherliegender Meister") oder ganzer Kunstepochen.



Wir erwähnen hier nur das vortreffliche Werk von O. Jahr über Mozart, das von
Chrysander üvcr Händel, und die ticfeingreifenden Gescimmtciusgabcn von Bach und Handel,
sowie die Breitkopf und Härtelsche Becthovenausgabe.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/73>, abgerufen am 24.07.2024.