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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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sie sind die zum Selbstzweck gewordenen Neibungspunkte großer Machtkreise,
deren traditionelle Rivalität das Schicksal ihrer Entwicklung so lange bestimmt,
bis sie, von der Eisersucht der Nachbarn genährt zur Selbständigkeit heran¬
wachsen, die früher oder später dem einen oder andern dieser unfreiwilligen
Nutritoren Gefahr droht. Das classische Beispiel einer solchen Entwickelung
ist das Königreich Savoyen-Piemont und ähnlich ist es auch mit der Entstehung
der selbständigen Niederlande bewärte. Solche Gründungen nahmen sich dann
in der Geschichte aus wie das El des Columbus: überzeugend und gerecht¬
fertigt steht das Neue da, und eS scheint nur das spontane Product allmälig
gewordener Verhältnisse, während die Erkenntniß der prägnanten Situation
und die Benutzung der Gelegenheit einsichtige und energische Geister forderte,
welche gleichsam durch einen Handstreich nicht blos eine neue Betrachtungsweise
des Gegebenen, sondern eine concrete Wirklichkeit mit unerwarteten Aussichten
ans Licht zaubern.

Man hat es oft genug ausgesprochen, daß die Entstehungsweise des sar¬
dinischen Staates mit der des preußischen viel Aehnlichkeit habe und in neuester
Zeit sind die kühnsten Nutzanwendungen dieser Parallele laut geworden; aber es
bleibt dabei ein Unterschied zu berücksichtigen, welcher nicht blos das Maß der
gegebenen Factoren, sondern ihre Natur betrifft. Denn der preußische Staat
ist in noch anderer und bedeutenderer Sache Kunstprvduct und er darf in der
That als eine Gattung für sich betrachtet werden. Denn während sich der
Ursprung anderer Staaten mehr oder minder als ein organischer Proceß darstellt,
wieder andere als Combinationen erscheinen, für welche der Antrieb im gegebenen
Materials mit enthalten ist. tritt uns in Preußen die fast bedingungslose
Schöpfung des Geistes der deutschen Geschichte selbst entgegen. Der Sinn
dieser Gründung ist eine historische Nothwendigkeit; ihre Form das kühnste
Wagniß: einem seiner Natur nach spröden und fremdartigen, in feinen Willens¬
äußerungen hartnäckig widerstrebenden Völkerstoffe wird die Last eines großen
Gedankens auferlegt, und der Baustein, den die Bauleute verworfen haben,
wird zum Eckstein eines neuen Gebäudes; aber freilich auch im Leben der
Geschichte geschieht jede Geburt nur unter Blut und Schmerzen.

Die tiefsinnige Sage unsres Volkes weiß zu erzählen von dem Zauber,
durch den ein einfach Wort am rechten Ort zu rechter Zeit gesprochen alte ver¬
wunschene Herrlichkeit neu ins Leben zu rufen vermag. In der Thatsache der
Entstehung des brandenburgisch-preußischen Staates hat sich dieser alte Volks¬
glaube bewährt am hellen Tage der Geschichte. An dem äußersten Saume
deutschen Landes, und mit einem Fuße schon außerhalb desselben steht er als
unsrer erhabensten Geschichtsepoche selbstbestellter Erbe da, das erstaunlichste
Kind des politischen Idealismus. Das große Testament, das er zu vollziehen
hat, liegt in dem Berufe, zum Mittelpunkte eines neuen Vaterlandes zu werden


sie sind die zum Selbstzweck gewordenen Neibungspunkte großer Machtkreise,
deren traditionelle Rivalität das Schicksal ihrer Entwicklung so lange bestimmt,
bis sie, von der Eisersucht der Nachbarn genährt zur Selbständigkeit heran¬
wachsen, die früher oder später dem einen oder andern dieser unfreiwilligen
Nutritoren Gefahr droht. Das classische Beispiel einer solchen Entwickelung
ist das Königreich Savoyen-Piemont und ähnlich ist es auch mit der Entstehung
der selbständigen Niederlande bewärte. Solche Gründungen nahmen sich dann
in der Geschichte aus wie das El des Columbus: überzeugend und gerecht¬
fertigt steht das Neue da, und eS scheint nur das spontane Product allmälig
gewordener Verhältnisse, während die Erkenntniß der prägnanten Situation
und die Benutzung der Gelegenheit einsichtige und energische Geister forderte,
welche gleichsam durch einen Handstreich nicht blos eine neue Betrachtungsweise
des Gegebenen, sondern eine concrete Wirklichkeit mit unerwarteten Aussichten
ans Licht zaubern.

Man hat es oft genug ausgesprochen, daß die Entstehungsweise des sar¬
dinischen Staates mit der des preußischen viel Aehnlichkeit habe und in neuester
Zeit sind die kühnsten Nutzanwendungen dieser Parallele laut geworden; aber es
bleibt dabei ein Unterschied zu berücksichtigen, welcher nicht blos das Maß der
gegebenen Factoren, sondern ihre Natur betrifft. Denn der preußische Staat
ist in noch anderer und bedeutenderer Sache Kunstprvduct und er darf in der
That als eine Gattung für sich betrachtet werden. Denn während sich der
Ursprung anderer Staaten mehr oder minder als ein organischer Proceß darstellt,
wieder andere als Combinationen erscheinen, für welche der Antrieb im gegebenen
Materials mit enthalten ist. tritt uns in Preußen die fast bedingungslose
Schöpfung des Geistes der deutschen Geschichte selbst entgegen. Der Sinn
dieser Gründung ist eine historische Nothwendigkeit; ihre Form das kühnste
Wagniß: einem seiner Natur nach spröden und fremdartigen, in feinen Willens¬
äußerungen hartnäckig widerstrebenden Völkerstoffe wird die Last eines großen
Gedankens auferlegt, und der Baustein, den die Bauleute verworfen haben,
wird zum Eckstein eines neuen Gebäudes; aber freilich auch im Leben der
Geschichte geschieht jede Geburt nur unter Blut und Schmerzen.

Die tiefsinnige Sage unsres Volkes weiß zu erzählen von dem Zauber,
durch den ein einfach Wort am rechten Ort zu rechter Zeit gesprochen alte ver¬
wunschene Herrlichkeit neu ins Leben zu rufen vermag. In der Thatsache der
Entstehung des brandenburgisch-preußischen Staates hat sich dieser alte Volks¬
glaube bewährt am hellen Tage der Geschichte. An dem äußersten Saume
deutschen Landes, und mit einem Fuße schon außerhalb desselben steht er als
unsrer erhabensten Geschichtsepoche selbstbestellter Erbe da, das erstaunlichste
Kind des politischen Idealismus. Das große Testament, das er zu vollziehen
hat, liegt in dem Berufe, zum Mittelpunkte eines neuen Vaterlandes zu werden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/507>, abgerufen am 24.07.2024.