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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Systeme der Abwehr behauptet werden, die in beiden Landestheilen bei dem
ungünstigen Verhältnisse der Grenzlänge gegen die Masse des Hinterlandes An¬
strengungen erfordern, welche nicht blos ungewöhnlich, sondern unnatürlich
erscheinen, wenn die normale Opferkraft eines hochentwickelten Wirthschafts¬
lebens in Rechnung kommt. Trotzdem wird im Westen nicht viel mehr erreicht
als eine Vorpostenlinie ohne eigentliche, wenigstens ohne stets gegenwärtige
Hauptarmee, im Osten aber bei der ungenügenden natürlichen Schutzwehr
eine Stellung, die im Falle des mehrseitiger Angriffs aus ein Minimum redu-
cirt werden muß; eine strategische Lage, die den Uebermuth der Nachbarn
geradezu herausfordert. Und ferner die Verwaltung des Landes, wie unge-
mein erschwert ist sie infolge der mangelhaften localen Centralisation; das Staats¬
regiment im Allgemeinen, mit wie viel verschiedenen Volksnaturen hat es zu
thun! Welche Gemeinschaft besteht von Haus aus zwischen dem Altmärker und
dem Rheinländer, zwischen dem Echtester und dem Westphalen, zwischen dem
Pommer und Sachsen, dem Ostpreußen und dem Thüringer? Was bindet diese
so höchst ungleichartigen Elemente zusammen? Was macht diese buntgemischte
Bewohnerschaft, die von den verschiedenartigsten Interessen abhängig, ja in den
unähnlichsten natürlichen Vorbedingungen sich entwickelte, zu einer Nation?

Oder sollte man nicht berechtigt sein, vom Volke des preußischen Staates
als von einer Nation zu reden? Wer das läugnete, der müßte blind und taub
sein gegen die bedeutsame Geschichte die sie zusammen durchgemacht, gegen die
reiche Fülle neuer und großartiger Aufgaben, die ihr gestellt werden, gegen die
kühnen Lösungen und jähen Katastrophen, deren gemeinsame Erfahrung sie zu-,
sammengekittet hat! Freilich hier ist weder Nation, noch Staat noch Vaterland
in gemeinem Sinne zu nehmen. Ein Neues, Eigenthümliches liegt in allen
diesen Begriffen, wenn sie auf Preußen angewendet werden.

Es giebt Länder, denen die Urkunde ihrer Staatsgestaltung in die Grund¬
festen des Bodens eingemauert scheint, auf welchem sie erwachsen sind. In
naturgegebener räumlicher Abschließung und nothwendiger Wechselbeziehung
liegen die Bestandtheile beisammen, welche allen Erschütterungen entweder
Trotz bieten oder, wenn zeitweilig ihnen weichend, sich fast nach physikalischen
Gesetzen wieder zusammenfinden, so daß es scheinbar nur der Zeit und eines
ausgesprochenen Willens bedarf, um sie zum Staatskörper zu machen. In
diesem Sinne läßt sich etwa von Spanien und von Frankreich reden; denn so
schwer auch die Kämpfe waren, aus denen hier wie dort der Staat hervorging,
sie stellen sich dennoch als natürliche Entwicklungskrankheiten dar, und niemand
wird behaupten wollen, daß ihr Resultat im Großen und Ganzen ein anderes
hätte sein können als es wirklich ist; die Nothwendigkeit, die in den gegebenen
Elementen liegt, hat darauf hin getrieben.

Andere Staaten sind entstanden gleichsam wie aus der Noth die Tugend:


Systeme der Abwehr behauptet werden, die in beiden Landestheilen bei dem
ungünstigen Verhältnisse der Grenzlänge gegen die Masse des Hinterlandes An¬
strengungen erfordern, welche nicht blos ungewöhnlich, sondern unnatürlich
erscheinen, wenn die normale Opferkraft eines hochentwickelten Wirthschafts¬
lebens in Rechnung kommt. Trotzdem wird im Westen nicht viel mehr erreicht
als eine Vorpostenlinie ohne eigentliche, wenigstens ohne stets gegenwärtige
Hauptarmee, im Osten aber bei der ungenügenden natürlichen Schutzwehr
eine Stellung, die im Falle des mehrseitiger Angriffs aus ein Minimum redu-
cirt werden muß; eine strategische Lage, die den Uebermuth der Nachbarn
geradezu herausfordert. Und ferner die Verwaltung des Landes, wie unge-
mein erschwert ist sie infolge der mangelhaften localen Centralisation; das Staats¬
regiment im Allgemeinen, mit wie viel verschiedenen Volksnaturen hat es zu
thun! Welche Gemeinschaft besteht von Haus aus zwischen dem Altmärker und
dem Rheinländer, zwischen dem Echtester und dem Westphalen, zwischen dem
Pommer und Sachsen, dem Ostpreußen und dem Thüringer? Was bindet diese
so höchst ungleichartigen Elemente zusammen? Was macht diese buntgemischte
Bewohnerschaft, die von den verschiedenartigsten Interessen abhängig, ja in den
unähnlichsten natürlichen Vorbedingungen sich entwickelte, zu einer Nation?

Oder sollte man nicht berechtigt sein, vom Volke des preußischen Staates
als von einer Nation zu reden? Wer das läugnete, der müßte blind und taub
sein gegen die bedeutsame Geschichte die sie zusammen durchgemacht, gegen die
reiche Fülle neuer und großartiger Aufgaben, die ihr gestellt werden, gegen die
kühnen Lösungen und jähen Katastrophen, deren gemeinsame Erfahrung sie zu-,
sammengekittet hat! Freilich hier ist weder Nation, noch Staat noch Vaterland
in gemeinem Sinne zu nehmen. Ein Neues, Eigenthümliches liegt in allen
diesen Begriffen, wenn sie auf Preußen angewendet werden.

Es giebt Länder, denen die Urkunde ihrer Staatsgestaltung in die Grund¬
festen des Bodens eingemauert scheint, auf welchem sie erwachsen sind. In
naturgegebener räumlicher Abschließung und nothwendiger Wechselbeziehung
liegen die Bestandtheile beisammen, welche allen Erschütterungen entweder
Trotz bieten oder, wenn zeitweilig ihnen weichend, sich fast nach physikalischen
Gesetzen wieder zusammenfinden, so daß es scheinbar nur der Zeit und eines
ausgesprochenen Willens bedarf, um sie zum Staatskörper zu machen. In
diesem Sinne läßt sich etwa von Spanien und von Frankreich reden; denn so
schwer auch die Kämpfe waren, aus denen hier wie dort der Staat hervorging,
sie stellen sich dennoch als natürliche Entwicklungskrankheiten dar, und niemand
wird behaupten wollen, daß ihr Resultat im Großen und Ganzen ein anderes
hätte sein können als es wirklich ist; die Nothwendigkeit, die in den gegebenen
Elementen liegt, hat darauf hin getrieben.

Andere Staaten sind entstanden gleichsam wie aus der Noth die Tugend:


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[0506] Systeme der Abwehr behauptet werden, die in beiden Landestheilen bei dem ungünstigen Verhältnisse der Grenzlänge gegen die Masse des Hinterlandes An¬ strengungen erfordern, welche nicht blos ungewöhnlich, sondern unnatürlich erscheinen, wenn die normale Opferkraft eines hochentwickelten Wirthschafts¬ lebens in Rechnung kommt. Trotzdem wird im Westen nicht viel mehr erreicht als eine Vorpostenlinie ohne eigentliche, wenigstens ohne stets gegenwärtige Hauptarmee, im Osten aber bei der ungenügenden natürlichen Schutzwehr eine Stellung, die im Falle des mehrseitiger Angriffs aus ein Minimum redu- cirt werden muß; eine strategische Lage, die den Uebermuth der Nachbarn geradezu herausfordert. Und ferner die Verwaltung des Landes, wie unge- mein erschwert ist sie infolge der mangelhaften localen Centralisation; das Staats¬ regiment im Allgemeinen, mit wie viel verschiedenen Volksnaturen hat es zu thun! Welche Gemeinschaft besteht von Haus aus zwischen dem Altmärker und dem Rheinländer, zwischen dem Echtester und dem Westphalen, zwischen dem Pommer und Sachsen, dem Ostpreußen und dem Thüringer? Was bindet diese so höchst ungleichartigen Elemente zusammen? Was macht diese buntgemischte Bewohnerschaft, die von den verschiedenartigsten Interessen abhängig, ja in den unähnlichsten natürlichen Vorbedingungen sich entwickelte, zu einer Nation? Oder sollte man nicht berechtigt sein, vom Volke des preußischen Staates als von einer Nation zu reden? Wer das läugnete, der müßte blind und taub sein gegen die bedeutsame Geschichte die sie zusammen durchgemacht, gegen die reiche Fülle neuer und großartiger Aufgaben, die ihr gestellt werden, gegen die kühnen Lösungen und jähen Katastrophen, deren gemeinsame Erfahrung sie zu-, sammengekittet hat! Freilich hier ist weder Nation, noch Staat noch Vaterland in gemeinem Sinne zu nehmen. Ein Neues, Eigenthümliches liegt in allen diesen Begriffen, wenn sie auf Preußen angewendet werden. Es giebt Länder, denen die Urkunde ihrer Staatsgestaltung in die Grund¬ festen des Bodens eingemauert scheint, auf welchem sie erwachsen sind. In naturgegebener räumlicher Abschließung und nothwendiger Wechselbeziehung liegen die Bestandtheile beisammen, welche allen Erschütterungen entweder Trotz bieten oder, wenn zeitweilig ihnen weichend, sich fast nach physikalischen Gesetzen wieder zusammenfinden, so daß es scheinbar nur der Zeit und eines ausgesprochenen Willens bedarf, um sie zum Staatskörper zu machen. In diesem Sinne läßt sich etwa von Spanien und von Frankreich reden; denn so schwer auch die Kämpfe waren, aus denen hier wie dort der Staat hervorging, sie stellen sich dennoch als natürliche Entwicklungskrankheiten dar, und niemand wird behaupten wollen, daß ihr Resultat im Großen und Ganzen ein anderes hätte sein können als es wirklich ist; die Nothwendigkeit, die in den gegebenen Elementen liegt, hat darauf hin getrieben. Andere Staaten sind entstanden gleichsam wie aus der Noth die Tugend:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/506>, abgerufen am 24.07.2024.