Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nahmen machte, auf seinen Reinschriften die Zeit zu bemerken, wann er die¬
selben niederschrieb, mitunter in sehr genauen Angaben, wie er z. B. zu An¬
fang des Klaviertrios in N cor (0p. 97) bemerkte "am 3. März 1811".
zum Schluß "geendigt am 26. März 1811", und dann später noch hinzufügte
am "11. Juni 1816 in Stich gegeben". In nicht wenigen Fällen hat mithin
die Einsicht des Autographs oder auch einer mit ähnlichen Bemerkungen von
Beethoven ausgestatteten Copie zuverlässige Auskunft über die Entstehungszeit
gebracht; allein nicht alle Urschriften tragen solche Notizen, und häusig sind
keine Urschriften vorhanden. Indessen läßt sich in gar manchen Fällen durch
Benutzung anderer Hilfsmittel und Angaben auf combinatorischem Wege die
Entstehungszeit sicher oder höchst wahrscheinlich ermitteln, oder doch in engere
Grenzen einschließen und ungefähr bestimmen. Das wichtigste Hilfsmittel dafür
sind B e ces ovens S kizze n duch er. Er pflegte auf zusammengeheftete Blätter
nicht allein Einfälle und Gedanken, wie sie ihm in den Sinn kamen, zu notiren
sondern die einzelnen Motive, Passagen, Wendungen derjenigen Kompositionen,
die ihn gerade beschäftigten, mit unermüdlichem Fleiß im Einzelnen durch¬
zuarbeiten und umzubilden, und da er in der Regel mit mehren Werken zu
gleicher Zeit beschäftigt war, so laufen die immer wiederholten Versuche der
verschiedenen Compositionen fortwährend durcheinander und nebeneinander her.
Beethoven legte auf diese Skizzen offenbar selbst Werth, er bewahrte sie auf
und ließ sie in ihrer ursprünglichen Ordnung zusammenbinden. Ein solches
Skizzenbuch gewährt mithin nicht allein das lebendige Bild seines Arbeitens,
sondern die unmittelbare Kunde dessen, was ihn gleichzeitig beschäftigte; wenn
es gelingt für einige der skizzirten Compositionen anderweitig die Zeit zu be¬
stimmen, oder wenn andere beiläufige Notizen auf eine bestimmte Zeit hin¬
weisen -- und in der Regel fehlt es an solchen Merkmalen nicht ganz -- so
wird es nun auch möglich, die Zeit der übrigen Compositionen mit ziemlicher
Bestimmtheit festzustellen. Wäre man zur rechten Zeit bedacht gewesen, diese
Skizzcnbücher in möglichster Vollständigkeit zusammenzuhalten, so würde ein
unschätzbares Material zur Kenntniß der Geschichte und der Kunst des großen
Meisters erhalten geblieben sein; jetzt sind sie zerstreut, zum Theil blattweis ver¬
zettelt, und nur mit Mühe und durch gutes Glück erlangt der Forscher die ein¬
zelnen Trümmer zur Benutzung.

Für die Bestimmung der Entstehungszeit ist unter Umständen von entschei¬
dender Bedeutung die Zeit der ersten Aufführung; manche Compositionen sind
für ganz bestimmte Veranlassungen geschrieben, manche Concerte erhielten ihre
Anziehungskraft durch Aufführung neuer Compositionen, manche Werke sind
von der Art, daß sie gleich nach ihrer Vollendung ins Publicum gelangen
mußten; die Zeit der Veranlassung und ersten Aufführung läßt also auch auf
die Zeit der Entstehung schließen, wiewohl bei Combinationen der Art immer


nahmen machte, auf seinen Reinschriften die Zeit zu bemerken, wann er die¬
selben niederschrieb, mitunter in sehr genauen Angaben, wie er z. B. zu An¬
fang des Klaviertrios in N cor (0p. 97) bemerkte „am 3. März 1811".
zum Schluß „geendigt am 26. März 1811", und dann später noch hinzufügte
am „11. Juni 1816 in Stich gegeben". In nicht wenigen Fällen hat mithin
die Einsicht des Autographs oder auch einer mit ähnlichen Bemerkungen von
Beethoven ausgestatteten Copie zuverlässige Auskunft über die Entstehungszeit
gebracht; allein nicht alle Urschriften tragen solche Notizen, und häusig sind
keine Urschriften vorhanden. Indessen läßt sich in gar manchen Fällen durch
Benutzung anderer Hilfsmittel und Angaben auf combinatorischem Wege die
Entstehungszeit sicher oder höchst wahrscheinlich ermitteln, oder doch in engere
Grenzen einschließen und ungefähr bestimmen. Das wichtigste Hilfsmittel dafür
sind B e ces ovens S kizze n duch er. Er pflegte auf zusammengeheftete Blätter
nicht allein Einfälle und Gedanken, wie sie ihm in den Sinn kamen, zu notiren
sondern die einzelnen Motive, Passagen, Wendungen derjenigen Kompositionen,
die ihn gerade beschäftigten, mit unermüdlichem Fleiß im Einzelnen durch¬
zuarbeiten und umzubilden, und da er in der Regel mit mehren Werken zu
gleicher Zeit beschäftigt war, so laufen die immer wiederholten Versuche der
verschiedenen Compositionen fortwährend durcheinander und nebeneinander her.
Beethoven legte auf diese Skizzen offenbar selbst Werth, er bewahrte sie auf
und ließ sie in ihrer ursprünglichen Ordnung zusammenbinden. Ein solches
Skizzenbuch gewährt mithin nicht allein das lebendige Bild seines Arbeitens,
sondern die unmittelbare Kunde dessen, was ihn gleichzeitig beschäftigte; wenn
es gelingt für einige der skizzirten Compositionen anderweitig die Zeit zu be¬
stimmen, oder wenn andere beiläufige Notizen auf eine bestimmte Zeit hin¬
weisen — und in der Regel fehlt es an solchen Merkmalen nicht ganz — so
wird es nun auch möglich, die Zeit der übrigen Compositionen mit ziemlicher
Bestimmtheit festzustellen. Wäre man zur rechten Zeit bedacht gewesen, diese
Skizzcnbücher in möglichster Vollständigkeit zusammenzuhalten, so würde ein
unschätzbares Material zur Kenntniß der Geschichte und der Kunst des großen
Meisters erhalten geblieben sein; jetzt sind sie zerstreut, zum Theil blattweis ver¬
zettelt, und nur mit Mühe und durch gutes Glück erlangt der Forscher die ein¬
zelnen Trümmer zur Benutzung.

Für die Bestimmung der Entstehungszeit ist unter Umständen von entschei¬
dender Bedeutung die Zeit der ersten Aufführung; manche Compositionen sind
für ganz bestimmte Veranlassungen geschrieben, manche Concerte erhielten ihre
Anziehungskraft durch Aufführung neuer Compositionen, manche Werke sind
von der Art, daß sie gleich nach ihrer Vollendung ins Publicum gelangen
mußten; die Zeit der Veranlassung und ersten Aufführung läßt also auch auf
die Zeit der Entstehung schließen, wiewohl bei Combinationen der Art immer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0362" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116828"/>
          <p xml:id="ID_1095" prev="#ID_1094"> nahmen machte, auf seinen Reinschriften die Zeit zu bemerken, wann er die¬<lb/>
selben niederschrieb, mitunter in sehr genauen Angaben, wie er z. B. zu An¬<lb/>
fang des Klaviertrios in N cor (0p. 97) bemerkte &#x201E;am 3. März 1811".<lb/>
zum Schluß &#x201E;geendigt am 26. März 1811", und dann später noch hinzufügte<lb/>
am &#x201E;11. Juni 1816 in Stich gegeben". In nicht wenigen Fällen hat mithin<lb/>
die Einsicht des Autographs oder auch einer mit ähnlichen Bemerkungen von<lb/>
Beethoven ausgestatteten Copie zuverlässige Auskunft über die Entstehungszeit<lb/>
gebracht; allein nicht alle Urschriften tragen solche Notizen, und häusig sind<lb/>
keine Urschriften vorhanden. Indessen läßt sich in gar manchen Fällen durch<lb/>
Benutzung anderer Hilfsmittel und Angaben auf combinatorischem Wege die<lb/>
Entstehungszeit sicher oder höchst wahrscheinlich ermitteln, oder doch in engere<lb/>
Grenzen einschließen und ungefähr bestimmen. Das wichtigste Hilfsmittel dafür<lb/>
sind B e ces ovens S kizze n duch er. Er pflegte auf zusammengeheftete Blätter<lb/>
nicht allein Einfälle und Gedanken, wie sie ihm in den Sinn kamen, zu notiren<lb/>
sondern die einzelnen Motive, Passagen, Wendungen derjenigen Kompositionen,<lb/>
die ihn gerade beschäftigten, mit unermüdlichem Fleiß im Einzelnen durch¬<lb/>
zuarbeiten und umzubilden, und da er in der Regel mit mehren Werken zu<lb/>
gleicher Zeit beschäftigt war, so laufen die immer wiederholten Versuche der<lb/>
verschiedenen Compositionen fortwährend durcheinander und nebeneinander her.<lb/>
Beethoven legte auf diese Skizzen offenbar selbst Werth, er bewahrte sie auf<lb/>
und ließ sie in ihrer ursprünglichen Ordnung zusammenbinden. Ein solches<lb/>
Skizzenbuch gewährt mithin nicht allein das lebendige Bild seines Arbeitens,<lb/>
sondern die unmittelbare Kunde dessen, was ihn gleichzeitig beschäftigte; wenn<lb/>
es gelingt für einige der skizzirten Compositionen anderweitig die Zeit zu be¬<lb/>
stimmen, oder wenn andere beiläufige Notizen auf eine bestimmte Zeit hin¬<lb/>
weisen &#x2014; und in der Regel fehlt es an solchen Merkmalen nicht ganz &#x2014; so<lb/>
wird es nun auch möglich, die Zeit der übrigen Compositionen mit ziemlicher<lb/>
Bestimmtheit festzustellen. Wäre man zur rechten Zeit bedacht gewesen, diese<lb/>
Skizzcnbücher in möglichster Vollständigkeit zusammenzuhalten, so würde ein<lb/>
unschätzbares Material zur Kenntniß der Geschichte und der Kunst des großen<lb/>
Meisters erhalten geblieben sein; jetzt sind sie zerstreut, zum Theil blattweis ver¬<lb/>
zettelt, und nur mit Mühe und durch gutes Glück erlangt der Forscher die ein¬<lb/>
zelnen Trümmer zur Benutzung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1096" next="#ID_1097"> Für die Bestimmung der Entstehungszeit ist unter Umständen von entschei¬<lb/>
dender Bedeutung die Zeit der ersten Aufführung; manche Compositionen sind<lb/>
für ganz bestimmte Veranlassungen geschrieben, manche Concerte erhielten ihre<lb/>
Anziehungskraft durch Aufführung neuer Compositionen, manche Werke sind<lb/>
von der Art, daß sie gleich nach ihrer Vollendung ins Publicum gelangen<lb/>
mußten; die Zeit der Veranlassung und ersten Aufführung läßt also auch auf<lb/>
die Zeit der Entstehung schließen, wiewohl bei Combinationen der Art immer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0362] nahmen machte, auf seinen Reinschriften die Zeit zu bemerken, wann er die¬ selben niederschrieb, mitunter in sehr genauen Angaben, wie er z. B. zu An¬ fang des Klaviertrios in N cor (0p. 97) bemerkte „am 3. März 1811". zum Schluß „geendigt am 26. März 1811", und dann später noch hinzufügte am „11. Juni 1816 in Stich gegeben". In nicht wenigen Fällen hat mithin die Einsicht des Autographs oder auch einer mit ähnlichen Bemerkungen von Beethoven ausgestatteten Copie zuverlässige Auskunft über die Entstehungszeit gebracht; allein nicht alle Urschriften tragen solche Notizen, und häusig sind keine Urschriften vorhanden. Indessen läßt sich in gar manchen Fällen durch Benutzung anderer Hilfsmittel und Angaben auf combinatorischem Wege die Entstehungszeit sicher oder höchst wahrscheinlich ermitteln, oder doch in engere Grenzen einschließen und ungefähr bestimmen. Das wichtigste Hilfsmittel dafür sind B e ces ovens S kizze n duch er. Er pflegte auf zusammengeheftete Blätter nicht allein Einfälle und Gedanken, wie sie ihm in den Sinn kamen, zu notiren sondern die einzelnen Motive, Passagen, Wendungen derjenigen Kompositionen, die ihn gerade beschäftigten, mit unermüdlichem Fleiß im Einzelnen durch¬ zuarbeiten und umzubilden, und da er in der Regel mit mehren Werken zu gleicher Zeit beschäftigt war, so laufen die immer wiederholten Versuche der verschiedenen Compositionen fortwährend durcheinander und nebeneinander her. Beethoven legte auf diese Skizzen offenbar selbst Werth, er bewahrte sie auf und ließ sie in ihrer ursprünglichen Ordnung zusammenbinden. Ein solches Skizzenbuch gewährt mithin nicht allein das lebendige Bild seines Arbeitens, sondern die unmittelbare Kunde dessen, was ihn gleichzeitig beschäftigte; wenn es gelingt für einige der skizzirten Compositionen anderweitig die Zeit zu be¬ stimmen, oder wenn andere beiläufige Notizen auf eine bestimmte Zeit hin¬ weisen — und in der Regel fehlt es an solchen Merkmalen nicht ganz — so wird es nun auch möglich, die Zeit der übrigen Compositionen mit ziemlicher Bestimmtheit festzustellen. Wäre man zur rechten Zeit bedacht gewesen, diese Skizzcnbücher in möglichster Vollständigkeit zusammenzuhalten, so würde ein unschätzbares Material zur Kenntniß der Geschichte und der Kunst des großen Meisters erhalten geblieben sein; jetzt sind sie zerstreut, zum Theil blattweis ver¬ zettelt, und nur mit Mühe und durch gutes Glück erlangt der Forscher die ein¬ zelnen Trümmer zur Benutzung. Für die Bestimmung der Entstehungszeit ist unter Umständen von entschei¬ dender Bedeutung die Zeit der ersten Aufführung; manche Compositionen sind für ganz bestimmte Veranlassungen geschrieben, manche Concerte erhielten ihre Anziehungskraft durch Aufführung neuer Compositionen, manche Werke sind von der Art, daß sie gleich nach ihrer Vollendung ins Publicum gelangen mußten; die Zeit der Veranlassung und ersten Aufführung läßt also auch auf die Zeit der Entstehung schließen, wiewohl bei Combinationen der Art immer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/362
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/362>, abgerufen am 24.07.2024.