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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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werden diese bei bedeutenden Meistern immer den Hauptstock bilden, vermittelnde
Arrangements nur ausnahmsweise anwendbar sein. Und dies ist ja wiederum
nur ein Beleg für die große Ungleichheit der weit auseinandergehenden Inter¬
essen des musikalischen Puvlicums, das in Sammlungen der Art keine gleich¬
mäßige Befriedigung findet, wie das freilich in der Literatur sich ebenfalls
geltend macht. Zwar wer heutzutage noch ernstlich im Lessing liest, der wird nicht
etwa nur nach Minna von Barnhelm und Nathan fragen, sondern mit gleicher
Befriedigung aus der Dramaturgie und den antiquarischen Briefen, aus den
Schriften über Theologie und Freimaurerei Erfrischung und Kräftigung schöpfen;
mit Herder aber ist das schon ganz anders. Und wenn bei Schiller Gedichte
und Dramen diejenigen Leser hinreichend entschädigen, welche an den philo¬
sophischen Schriften kein Behagen finden, so möchte es wohl fraglich sein, ob
nicht einer gleichen Popularität Goethes auch der Umfang und die Verschieden¬
artigkeit seiner Werke in den Weg getreten sind, und hier eine Theilung nach
den verschiedenen Richtungen von sehr günstigem Erfolge sein würde. Bei
weitem größer und praktisch schwerer ins Gewicht fallend ist die Vielseitigkeit
der meisten Komponisten von Bedeutung. Freilich wenn von Hunden, Eh. Voß,
Oefter gesammelte -- Werke darf man doch nicht sagen, erschienen, würde
man über Mannigfaltigkeit nicht zu klagen haben, allein bei den Meistern,
die in großen Leistungen ihre Größe bewährt haben, verhält sich das anders:
Kirche, Theater, Concert- und Hausmusik boten jedem Aufgaben der verschie¬
densten Art, die dann nicht dasselbe Publicum in gleichem Maße interessiren,
oft ein um so geringeres, je größeren Aufwand i!?re Publication in Anspruch
nimmt.

Nicht minder erschwerend ist ein anderer Umstand. Bei dem lesenden
Publicum hat sich ziemlich allgemein ein historisches Interesse gebildet, welches an
der Entwickelung der Literatur überhaupt und namentlich auch an der allmäligen
Ausbildung der einzelnen Schriftsteller regen Antheil nimmt; Jugendversuche,
Entwürfe und Umarbeitungen, überhaupt Erscheinungen, welche weniger un¬
mittelbar Genuß gewähren, als sie die nähere Erkenntniß des geistigen Schaffens
und Arbeitens fördern, finden auch in weiteren Kreisen eingehende Theilnahme
die, wie alles historische Forschen und Wissen, nothwendig nach Erweiterung und
Vervollständigung strebt. Dieses historische Interesse nun regt sich zwar seit
einiger Zeit auch in musikalischen Kreisen, doch ist es in diesen noch immer
ungleich seltener zu finden als in literarischen. Nicht allein das hörende
Publicum, das, wenn nicht bloßen Zeitvertreib, doch eine augenblicklich und
unmittelbar ergreifende Wirkung der Musik verlangt, nicht allein die selbst spielen¬
den und singenden Dilettanten, die in der großen Masse gewöhnlich in Wollen und
Können gleich beschränkt sind, auch die Musiker Pflegen nach dieser Seite hin
wenig Interesse zu zeigen. Ein Eingehen auf historische Auffassung setzt freilich


werden diese bei bedeutenden Meistern immer den Hauptstock bilden, vermittelnde
Arrangements nur ausnahmsweise anwendbar sein. Und dies ist ja wiederum
nur ein Beleg für die große Ungleichheit der weit auseinandergehenden Inter¬
essen des musikalischen Puvlicums, das in Sammlungen der Art keine gleich¬
mäßige Befriedigung findet, wie das freilich in der Literatur sich ebenfalls
geltend macht. Zwar wer heutzutage noch ernstlich im Lessing liest, der wird nicht
etwa nur nach Minna von Barnhelm und Nathan fragen, sondern mit gleicher
Befriedigung aus der Dramaturgie und den antiquarischen Briefen, aus den
Schriften über Theologie und Freimaurerei Erfrischung und Kräftigung schöpfen;
mit Herder aber ist das schon ganz anders. Und wenn bei Schiller Gedichte
und Dramen diejenigen Leser hinreichend entschädigen, welche an den philo¬
sophischen Schriften kein Behagen finden, so möchte es wohl fraglich sein, ob
nicht einer gleichen Popularität Goethes auch der Umfang und die Verschieden¬
artigkeit seiner Werke in den Weg getreten sind, und hier eine Theilung nach
den verschiedenen Richtungen von sehr günstigem Erfolge sein würde. Bei
weitem größer und praktisch schwerer ins Gewicht fallend ist die Vielseitigkeit
der meisten Komponisten von Bedeutung. Freilich wenn von Hunden, Eh. Voß,
Oefter gesammelte — Werke darf man doch nicht sagen, erschienen, würde
man über Mannigfaltigkeit nicht zu klagen haben, allein bei den Meistern,
die in großen Leistungen ihre Größe bewährt haben, verhält sich das anders:
Kirche, Theater, Concert- und Hausmusik boten jedem Aufgaben der verschie¬
densten Art, die dann nicht dasselbe Publicum in gleichem Maße interessiren,
oft ein um so geringeres, je größeren Aufwand i!?re Publication in Anspruch
nimmt.

Nicht minder erschwerend ist ein anderer Umstand. Bei dem lesenden
Publicum hat sich ziemlich allgemein ein historisches Interesse gebildet, welches an
der Entwickelung der Literatur überhaupt und namentlich auch an der allmäligen
Ausbildung der einzelnen Schriftsteller regen Antheil nimmt; Jugendversuche,
Entwürfe und Umarbeitungen, überhaupt Erscheinungen, welche weniger un¬
mittelbar Genuß gewähren, als sie die nähere Erkenntniß des geistigen Schaffens
und Arbeitens fördern, finden auch in weiteren Kreisen eingehende Theilnahme
die, wie alles historische Forschen und Wissen, nothwendig nach Erweiterung und
Vervollständigung strebt. Dieses historische Interesse nun regt sich zwar seit
einiger Zeit auch in musikalischen Kreisen, doch ist es in diesen noch immer
ungleich seltener zu finden als in literarischen. Nicht allein das hörende
Publicum, das, wenn nicht bloßen Zeitvertreib, doch eine augenblicklich und
unmittelbar ergreifende Wirkung der Musik verlangt, nicht allein die selbst spielen¬
den und singenden Dilettanten, die in der großen Masse gewöhnlich in Wollen und
Können gleich beschränkt sind, auch die Musiker Pflegen nach dieser Seite hin
wenig Interesse zu zeigen. Ein Eingehen auf historische Auffassung setzt freilich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/285>, abgerufen am 24.07.2024.