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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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nicht nur ein gewisses Maß von Kenntnissen voraus, sondern auch die bewußte
Absicht, dem Kunstwerk gegenüber einen anderen Standpunkt einzunehmen als den
des einfachen Genießen", ferner die Fähigkeit, von den gewohnten Formen theil¬
weise wenigstens abzusehen, ohne durch das eine wie das andere die Empfäng¬
lichkeit für das eigentlich Musikalische und Künstlerische zu schwächen -- An¬
forderungen, welche besonders auf diesem Gebiet nicht leicht zu befriedigen sind.
Wenn daher bei der Sammlung von Werten selbst bedeutender Komponisten
dieses historische Interesse sehr erheblich in Anspruch genommen würde, könnte
eine solche schwerlich ins Werk gerichtet werden. Eine Ausgabe von Glucks
sämmtlichen Werken -- von Hasse, Grau" und anderen gar nicht zu reden --
ist kaum denkbar, so interessant und wichtig es auch wäre, die Entwickelung
eines refvrmatonschcn Geistes in den Compositionen verschiedener Lebensperioden
zu verfolgen und seine Stellung zu den mannigfaltigen Anforderungen seiner
Zeit und seines Berufs wie zu den Leistungen seiner Zeitgenossen aus den
Werken verschiedener Zeit und Bestimmung zu erkennen; während jetzt wesent¬
lich nur die Werte einer Richtung bekannt sind und allgemein die Vorstellung von
Gluck begründen. Wenn in diesem Falle die fast ausschließliche Thätigkeit
Glucks für die Oper Schwierigkeiten macht, so werden diese bei anderen Meistern
durch ihre Vielseitigkeit eher noch vermehrt. Die Popularität Joseph Haydns
beruht auf den Werten der letzten zwanzig Jahre seines langen Lebens, wir
kennen ganz vorzugsweise den nachmozartischen Hayd", der aufstrebende Haydn.
der die Instrumentalmusik befreite und aufbaute, ist so gut wie verschollen,
wenn man von einer Anzahl seiner früheren Quartetts absieht; was er für die
Kirchenmusik leistete, ist unvollständig, was er als Operncomponist schuf, ist gar
nicht bekannt geworden. Allein wen" es gelänge, die 119 Symphonien, welche
Haydn in einem eigenhändigen Verzeichnis) "derjenigen Compositionen. welche
er sich beiläufig erinnerte von seinem achtzehnten bis ins dreiundsiebenzigste Jahr
componirt zu haben", selbst notirte, die 163 Stücke für Bariton, das Lieblings¬
instrument des Fürsten Nicolas Esterhazy, die unzähligen Kassationen, Diver¬
timenti. Notturni, Scherzandi. Phantasie", Concerte, Sonaten u. s. w. für
mehr oder weniger Instrumente, 18 italienische Opern nebst mehren deutschen,
endlich die verschiedenen Kirchencompvsitionen vollständig zusammenzubringen,
wer würde daran denken können, für eine Gesammtausgabe derselben auch ein
kauflustiges Publicum zusammenzubringen? Auch mit Mozart steht es nicht
anders. Wie groß auch die Verbreitung ist, welche zahlreiche Werke fast aller
Gattungen gefunden haben, wie weit und tiefgreifend ihr Einfluß, wie all¬
gemein noch heute ihre Popularität ist: wollte man die sämmtlichen 626
Eompositionen, welche Köchels Mustcrverzeichnlß aufstellt, in einer Gesammt¬
ausgabe vereinigen, eine Anzahl von Liebhabern und Sammlern würde sich für
dieselbe finden, aber schwerlich ein Publicum. Wie schön und bedeutend auch


nicht nur ein gewisses Maß von Kenntnissen voraus, sondern auch die bewußte
Absicht, dem Kunstwerk gegenüber einen anderen Standpunkt einzunehmen als den
des einfachen Genießen«, ferner die Fähigkeit, von den gewohnten Formen theil¬
weise wenigstens abzusehen, ohne durch das eine wie das andere die Empfäng¬
lichkeit für das eigentlich Musikalische und Künstlerische zu schwächen — An¬
forderungen, welche besonders auf diesem Gebiet nicht leicht zu befriedigen sind.
Wenn daher bei der Sammlung von Werten selbst bedeutender Komponisten
dieses historische Interesse sehr erheblich in Anspruch genommen würde, könnte
eine solche schwerlich ins Werk gerichtet werden. Eine Ausgabe von Glucks
sämmtlichen Werken — von Hasse, Grau» und anderen gar nicht zu reden —
ist kaum denkbar, so interessant und wichtig es auch wäre, die Entwickelung
eines refvrmatonschcn Geistes in den Compositionen verschiedener Lebensperioden
zu verfolgen und seine Stellung zu den mannigfaltigen Anforderungen seiner
Zeit und seines Berufs wie zu den Leistungen seiner Zeitgenossen aus den
Werken verschiedener Zeit und Bestimmung zu erkennen; während jetzt wesent¬
lich nur die Werte einer Richtung bekannt sind und allgemein die Vorstellung von
Gluck begründen. Wenn in diesem Falle die fast ausschließliche Thätigkeit
Glucks für die Oper Schwierigkeiten macht, so werden diese bei anderen Meistern
durch ihre Vielseitigkeit eher noch vermehrt. Die Popularität Joseph Haydns
beruht auf den Werten der letzten zwanzig Jahre seines langen Lebens, wir
kennen ganz vorzugsweise den nachmozartischen Hayd», der aufstrebende Haydn.
der die Instrumentalmusik befreite und aufbaute, ist so gut wie verschollen,
wenn man von einer Anzahl seiner früheren Quartetts absieht; was er für die
Kirchenmusik leistete, ist unvollständig, was er als Operncomponist schuf, ist gar
nicht bekannt geworden. Allein wen» es gelänge, die 119 Symphonien, welche
Haydn in einem eigenhändigen Verzeichnis) „derjenigen Compositionen. welche
er sich beiläufig erinnerte von seinem achtzehnten bis ins dreiundsiebenzigste Jahr
componirt zu haben", selbst notirte, die 163 Stücke für Bariton, das Lieblings¬
instrument des Fürsten Nicolas Esterhazy, die unzähligen Kassationen, Diver¬
timenti. Notturni, Scherzandi. Phantasie», Concerte, Sonaten u. s. w. für
mehr oder weniger Instrumente, 18 italienische Opern nebst mehren deutschen,
endlich die verschiedenen Kirchencompvsitionen vollständig zusammenzubringen,
wer würde daran denken können, für eine Gesammtausgabe derselben auch ein
kauflustiges Publicum zusammenzubringen? Auch mit Mozart steht es nicht
anders. Wie groß auch die Verbreitung ist, welche zahlreiche Werke fast aller
Gattungen gefunden haben, wie weit und tiefgreifend ihr Einfluß, wie all¬
gemein noch heute ihre Popularität ist: wollte man die sämmtlichen 626
Eompositionen, welche Köchels Mustcrverzeichnlß aufstellt, in einer Gesammt¬
ausgabe vereinigen, eine Anzahl von Liebhabern und Sammlern würde sich für
dieselbe finden, aber schwerlich ein Publicum. Wie schön und bedeutend auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/286>, abgerufen am 24.07.2024.