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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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seit der Wiederaufführung der Matthäuspassion durch Zelter und Mendelssohn
hat man angefangen die Gesangswerke Bachs der Vergessenheit zu entreißen,
und auf Jahre hinaus hat die Bachgesellschaft ungedruckte Werke zu publiciren,
deren keines ohne eigenthümliche Bedeutung ist. Von einem Meister wie Hasse,
der über ein Menschenalter auf der Bühne Deutschlands und Italiens herrschte,
sind nur vereinzelte Compositionen durch den Druck bekannt geworden --
kurz es ist eine Ausnahme, wenn die Thätigkeit eines namhaften Komponisten
nach seinen gedruckten Werken geschätzt werden konnte. In London dagegen
wurden Händels große Compositionen meistentheils gleich gedruckt und in Paris
war es sogar Regel, daß Opern, die zur Aufführung kamen, auch gestochen
würden, was hauptsächlich in den großartigen Verhältnissen beider Städte be¬
gründet war. Dies hat sich allerdings seitdem vollständig geändert und heUt
zu Tage ist vorzugsweise der deutsche Musikhandel auch der höheren Aufgabe
eingedenk, größere Werke von nachhaltiger Bedeutung dauernd zu erhalten.
Allein wenn gegenwärtig auch von den hervorragenden Meistern, von denjenigen,
welche einen bestimmenden Einfluß auf die Zeit üben, so ziemlich alle irgend
erhebliche Werke gedruckt und auch für die Zukunft zum Genuß und Studium
erhalten werden, so bilden diese doch nur einen geringen Theil der gesammten
Masse der Musikalien, welche auf den Markt kommen. Und diese vertritt keines¬
wegs vorwiegend die besseren, tüchtigen, nach dem Edlen und Schönen streben¬
den Componisten, die nur unter besonders günstigen Umständen dazu gelangen,
was sie mit treuer Hingebung an die Kunst geschaffen auch gedruckt zu sehen,
sondern die mit der Mode wechselnde Laune und die Viertelsbildung der Dilet¬
tanten, der es an willfährigen Componistenfedern freilich nie fehlen kann.
Daher wird man sagen dürfen, daß im Ganzen genommen die Leistungen der
componirenden Musiker unserer Zeit, wenn sie auch die Kunstgeschichte gar nicht
oder nur mangelhaft kennen wird, ernster und bedeutender sind, als die Masse
der gedruckten Compositionen schließen läßt, -- was man von der Literatur in
keiner Weise behaupten kann.

Nach dem Gesagten ist es leicht begreiflich, daß Ausgaben sämmtlicher
Werke bei Componisten ungleich größeren Bedenken begegnen als bei Schrift¬
stellern. Nicht gering anzuschlagen ist schon die ganz äußerliche räumliche
Schwierigkeit. Noten verlangen ein großes Format und auf eine lange Reihe
von Folianten sind die Wenigsten eingerichtet, welche Musik treiben; ohne diese
eine würde es kaum je abgehen, denn die meisten großen Componisten sind
auch fruchtbar gewesen, und wo es sich um Partituren handelt, da schwellen
die Bände rasch an. Die Partituren sind nun überhaupt ein Stein des An¬
stoßes. Unter den Dilettanten sind nicht allzu viele so gründlich gebildet, daß
sie daraus Genuß zu schöpfen wissen -- man sagt, es gebe sogar gelernte
Musiker, die nicht gern und bequem mit Partituren Handthieren -- und doch


seit der Wiederaufführung der Matthäuspassion durch Zelter und Mendelssohn
hat man angefangen die Gesangswerke Bachs der Vergessenheit zu entreißen,
und auf Jahre hinaus hat die Bachgesellschaft ungedruckte Werke zu publiciren,
deren keines ohne eigenthümliche Bedeutung ist. Von einem Meister wie Hasse,
der über ein Menschenalter auf der Bühne Deutschlands und Italiens herrschte,
sind nur vereinzelte Compositionen durch den Druck bekannt geworden —
kurz es ist eine Ausnahme, wenn die Thätigkeit eines namhaften Komponisten
nach seinen gedruckten Werken geschätzt werden konnte. In London dagegen
wurden Händels große Compositionen meistentheils gleich gedruckt und in Paris
war es sogar Regel, daß Opern, die zur Aufführung kamen, auch gestochen
würden, was hauptsächlich in den großartigen Verhältnissen beider Städte be¬
gründet war. Dies hat sich allerdings seitdem vollständig geändert und heUt
zu Tage ist vorzugsweise der deutsche Musikhandel auch der höheren Aufgabe
eingedenk, größere Werke von nachhaltiger Bedeutung dauernd zu erhalten.
Allein wenn gegenwärtig auch von den hervorragenden Meistern, von denjenigen,
welche einen bestimmenden Einfluß auf die Zeit üben, so ziemlich alle irgend
erhebliche Werke gedruckt und auch für die Zukunft zum Genuß und Studium
erhalten werden, so bilden diese doch nur einen geringen Theil der gesammten
Masse der Musikalien, welche auf den Markt kommen. Und diese vertritt keines¬
wegs vorwiegend die besseren, tüchtigen, nach dem Edlen und Schönen streben¬
den Componisten, die nur unter besonders günstigen Umständen dazu gelangen,
was sie mit treuer Hingebung an die Kunst geschaffen auch gedruckt zu sehen,
sondern die mit der Mode wechselnde Laune und die Viertelsbildung der Dilet¬
tanten, der es an willfährigen Componistenfedern freilich nie fehlen kann.
Daher wird man sagen dürfen, daß im Ganzen genommen die Leistungen der
componirenden Musiker unserer Zeit, wenn sie auch die Kunstgeschichte gar nicht
oder nur mangelhaft kennen wird, ernster und bedeutender sind, als die Masse
der gedruckten Compositionen schließen läßt, — was man von der Literatur in
keiner Weise behaupten kann.

Nach dem Gesagten ist es leicht begreiflich, daß Ausgaben sämmtlicher
Werke bei Componisten ungleich größeren Bedenken begegnen als bei Schrift¬
stellern. Nicht gering anzuschlagen ist schon die ganz äußerliche räumliche
Schwierigkeit. Noten verlangen ein großes Format und auf eine lange Reihe
von Folianten sind die Wenigsten eingerichtet, welche Musik treiben; ohne diese
eine würde es kaum je abgehen, denn die meisten großen Componisten sind
auch fruchtbar gewesen, und wo es sich um Partituren handelt, da schwellen
die Bände rasch an. Die Partituren sind nun überhaupt ein Stein des An¬
stoßes. Unter den Dilettanten sind nicht allzu viele so gründlich gebildet, daß
sie daraus Genuß zu schöpfen wissen — man sagt, es gebe sogar gelernte
Musiker, die nicht gern und bequem mit Partituren Handthieren — und doch


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[0284] seit der Wiederaufführung der Matthäuspassion durch Zelter und Mendelssohn hat man angefangen die Gesangswerke Bachs der Vergessenheit zu entreißen, und auf Jahre hinaus hat die Bachgesellschaft ungedruckte Werke zu publiciren, deren keines ohne eigenthümliche Bedeutung ist. Von einem Meister wie Hasse, der über ein Menschenalter auf der Bühne Deutschlands und Italiens herrschte, sind nur vereinzelte Compositionen durch den Druck bekannt geworden — kurz es ist eine Ausnahme, wenn die Thätigkeit eines namhaften Komponisten nach seinen gedruckten Werken geschätzt werden konnte. In London dagegen wurden Händels große Compositionen meistentheils gleich gedruckt und in Paris war es sogar Regel, daß Opern, die zur Aufführung kamen, auch gestochen würden, was hauptsächlich in den großartigen Verhältnissen beider Städte be¬ gründet war. Dies hat sich allerdings seitdem vollständig geändert und heUt zu Tage ist vorzugsweise der deutsche Musikhandel auch der höheren Aufgabe eingedenk, größere Werke von nachhaltiger Bedeutung dauernd zu erhalten. Allein wenn gegenwärtig auch von den hervorragenden Meistern, von denjenigen, welche einen bestimmenden Einfluß auf die Zeit üben, so ziemlich alle irgend erhebliche Werke gedruckt und auch für die Zukunft zum Genuß und Studium erhalten werden, so bilden diese doch nur einen geringen Theil der gesammten Masse der Musikalien, welche auf den Markt kommen. Und diese vertritt keines¬ wegs vorwiegend die besseren, tüchtigen, nach dem Edlen und Schönen streben¬ den Componisten, die nur unter besonders günstigen Umständen dazu gelangen, was sie mit treuer Hingebung an die Kunst geschaffen auch gedruckt zu sehen, sondern die mit der Mode wechselnde Laune und die Viertelsbildung der Dilet¬ tanten, der es an willfährigen Componistenfedern freilich nie fehlen kann. Daher wird man sagen dürfen, daß im Ganzen genommen die Leistungen der componirenden Musiker unserer Zeit, wenn sie auch die Kunstgeschichte gar nicht oder nur mangelhaft kennen wird, ernster und bedeutender sind, als die Masse der gedruckten Compositionen schließen läßt, — was man von der Literatur in keiner Weise behaupten kann. Nach dem Gesagten ist es leicht begreiflich, daß Ausgaben sämmtlicher Werke bei Componisten ungleich größeren Bedenken begegnen als bei Schrift¬ stellern. Nicht gering anzuschlagen ist schon die ganz äußerliche räumliche Schwierigkeit. Noten verlangen ein großes Format und auf eine lange Reihe von Folianten sind die Wenigsten eingerichtet, welche Musik treiben; ohne diese eine würde es kaum je abgehen, denn die meisten großen Componisten sind auch fruchtbar gewesen, und wo es sich um Partituren handelt, da schwellen die Bände rasch an. Die Partituren sind nun überhaupt ein Stein des An¬ stoßes. Unter den Dilettanten sind nicht allzu viele so gründlich gebildet, daß sie daraus Genuß zu schöpfen wissen — man sagt, es gebe sogar gelernte Musiker, die nicht gern und bequem mit Partituren Handthieren — und doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/284>, abgerufen am 24.07.2024.