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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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sehen des achtzehnten Jahrhunderts gesagt hat, sie sei herabgestiegen vom Him¬
mel auf die Erde, so hat auch Lessing, der die alltäglichen Pflichten des Staats
übersah, einige der höchsten Probleme der Staatskunst beleuchtet, die erst eine
ferne Zukunft lösen wird. Die Gesittung der Gegenwart steht zugleich über
und unter den Ideen der Humanität unsrer Väter. Sie blickt hernieder auf
ein Volk von Privatmenschen, das den Patriotismus nicht kannte, aber demü¬
thig schaut sie empor zu jenen Weisen, die, menschlichen Sinnes voll, nach der
Grenze frugen, "wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört". Mit der traurigen
Wirklichkeit, die Lessing umgab, mit dem Elend der Nothstaaten, darin er
lebte, entschuldigen wir es, daß auch ihm. wie allen deutschen Denkern seiner
Zeit, sehr schwer ward, die Nothwendigkeit des Staates zu verstehen, daß auch
ihn jene Frage beschäftigt hat. die ein Volk mächtiger und glücklicher Bürger
nie lange betrachten mag. die Frage: ist die Abschaffung des Staats möglich
oder zu wünschen? Desgleichen in die überwundene Epoche vorherrschenden Privat¬
lebens verweisen wir seine Lehre, daß der Staat, obwohl er erst "den Anbau
der Vernunft möglich mache" doch nur ein Mittel sei für die Bildung des
einzelnen Menschen. Aber weit hinaus über den Gesichtskreis der Nachwelt
selber schweift er wieder, wenn er in den Freimaurergesprächen die tiefsinnige
Frage durchdenkt: wie lassen sich die Uebel der Beschränktheit und der Härte
heben, die das Bestehen mehrer Staaten nothwendig hervorruft? Wie ist eine
Verbindung möglich aller guten Menschen ohne Ansehen des Standes, des
Landes und des Glaubens zum Zwecke rein menschlicher Gesittung? In diesen
Worten, fürwahr, eröffnet sich die Aussicht auf einen menschlichen Verkehr der
Völkergesellschaft, den erst ferne Tage schauen werden. Wie aber? Steht nicht
dies Weltbürgerthum ein Todfeind gegenüber dem ersten und berechtigtsten
Streben der Gegenwart, dem Drange nach nationaler Staatenbildung? Ich
denke, nein. So tiefsinnig, so überschwänglich reich ist das Leben der Staaten,
daß niemals eine Geistesrichtung allein darin herrschen kann. Noch heute leben
sie. jene Gedanken von dem Weltbürgerthume. und eben jene dürfen sich heute
Lessings getreueste Schüler nennen, die -- seinem Geiste, nicht dem Klange
seiner Rede folgend -- am rührigsten für den nationalen Gedanken wirken.
Wenn erst von den großen Culturvölkern jedes zerrissene sich geeint, jedes ge¬
knechtete aus seinem Volksgeiste heraus seinen Staat sich gestaltet hat. wenn
damit verschwunden sind die größten, die gefährlichsten Anlässe des Haders, die
bisher Staat mit Staat verfeindet: dann erst wird jener gesicherte Verkehr der
Menschen, jenes Weltbürgerthum sich vollenden in einem tieferen, reicheren
Sinne als Lessing meinte, und allüberall wird man reden von seinem Seher-
Seiste. Dann auch wird die Welt ein Wort verstehen, das die Gegenwart in
ihrem schweren Kampfe nimmermehr verstehen darf -- das himmlisch milde:
was Blut kostet ist gewiß kein Blut werth.


Grenzboten I. 1"6ij.

sehen des achtzehnten Jahrhunderts gesagt hat, sie sei herabgestiegen vom Him¬
mel auf die Erde, so hat auch Lessing, der die alltäglichen Pflichten des Staats
übersah, einige der höchsten Probleme der Staatskunst beleuchtet, die erst eine
ferne Zukunft lösen wird. Die Gesittung der Gegenwart steht zugleich über
und unter den Ideen der Humanität unsrer Väter. Sie blickt hernieder auf
ein Volk von Privatmenschen, das den Patriotismus nicht kannte, aber demü¬
thig schaut sie empor zu jenen Weisen, die, menschlichen Sinnes voll, nach der
Grenze frugen, „wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört". Mit der traurigen
Wirklichkeit, die Lessing umgab, mit dem Elend der Nothstaaten, darin er
lebte, entschuldigen wir es, daß auch ihm. wie allen deutschen Denkern seiner
Zeit, sehr schwer ward, die Nothwendigkeit des Staates zu verstehen, daß auch
ihn jene Frage beschäftigt hat. die ein Volk mächtiger und glücklicher Bürger
nie lange betrachten mag. die Frage: ist die Abschaffung des Staats möglich
oder zu wünschen? Desgleichen in die überwundene Epoche vorherrschenden Privat¬
lebens verweisen wir seine Lehre, daß der Staat, obwohl er erst „den Anbau
der Vernunft möglich mache" doch nur ein Mittel sei für die Bildung des
einzelnen Menschen. Aber weit hinaus über den Gesichtskreis der Nachwelt
selber schweift er wieder, wenn er in den Freimaurergesprächen die tiefsinnige
Frage durchdenkt: wie lassen sich die Uebel der Beschränktheit und der Härte
heben, die das Bestehen mehrer Staaten nothwendig hervorruft? Wie ist eine
Verbindung möglich aller guten Menschen ohne Ansehen des Standes, des
Landes und des Glaubens zum Zwecke rein menschlicher Gesittung? In diesen
Worten, fürwahr, eröffnet sich die Aussicht auf einen menschlichen Verkehr der
Völkergesellschaft, den erst ferne Tage schauen werden. Wie aber? Steht nicht
dies Weltbürgerthum ein Todfeind gegenüber dem ersten und berechtigtsten
Streben der Gegenwart, dem Drange nach nationaler Staatenbildung? Ich
denke, nein. So tiefsinnig, so überschwänglich reich ist das Leben der Staaten,
daß niemals eine Geistesrichtung allein darin herrschen kann. Noch heute leben
sie. jene Gedanken von dem Weltbürgerthume. und eben jene dürfen sich heute
Lessings getreueste Schüler nennen, die — seinem Geiste, nicht dem Klange
seiner Rede folgend — am rührigsten für den nationalen Gedanken wirken.
Wenn erst von den großen Culturvölkern jedes zerrissene sich geeint, jedes ge¬
knechtete aus seinem Volksgeiste heraus seinen Staat sich gestaltet hat. wenn
damit verschwunden sind die größten, die gefährlichsten Anlässe des Haders, die
bisher Staat mit Staat verfeindet: dann erst wird jener gesicherte Verkehr der
Menschen, jenes Weltbürgerthum sich vollenden in einem tieferen, reicheren
Sinne als Lessing meinte, und allüberall wird man reden von seinem Seher-
Seiste. Dann auch wird die Welt ein Wort verstehen, das die Gegenwart in
ihrem schweren Kampfe nimmermehr verstehen darf — das himmlisch milde:
was Blut kostet ist gewiß kein Blut werth.


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[0321] sehen des achtzehnten Jahrhunderts gesagt hat, sie sei herabgestiegen vom Him¬ mel auf die Erde, so hat auch Lessing, der die alltäglichen Pflichten des Staats übersah, einige der höchsten Probleme der Staatskunst beleuchtet, die erst eine ferne Zukunft lösen wird. Die Gesittung der Gegenwart steht zugleich über und unter den Ideen der Humanität unsrer Väter. Sie blickt hernieder auf ein Volk von Privatmenschen, das den Patriotismus nicht kannte, aber demü¬ thig schaut sie empor zu jenen Weisen, die, menschlichen Sinnes voll, nach der Grenze frugen, „wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört". Mit der traurigen Wirklichkeit, die Lessing umgab, mit dem Elend der Nothstaaten, darin er lebte, entschuldigen wir es, daß auch ihm. wie allen deutschen Denkern seiner Zeit, sehr schwer ward, die Nothwendigkeit des Staates zu verstehen, daß auch ihn jene Frage beschäftigt hat. die ein Volk mächtiger und glücklicher Bürger nie lange betrachten mag. die Frage: ist die Abschaffung des Staats möglich oder zu wünschen? Desgleichen in die überwundene Epoche vorherrschenden Privat¬ lebens verweisen wir seine Lehre, daß der Staat, obwohl er erst „den Anbau der Vernunft möglich mache" doch nur ein Mittel sei für die Bildung des einzelnen Menschen. Aber weit hinaus über den Gesichtskreis der Nachwelt selber schweift er wieder, wenn er in den Freimaurergesprächen die tiefsinnige Frage durchdenkt: wie lassen sich die Uebel der Beschränktheit und der Härte heben, die das Bestehen mehrer Staaten nothwendig hervorruft? Wie ist eine Verbindung möglich aller guten Menschen ohne Ansehen des Standes, des Landes und des Glaubens zum Zwecke rein menschlicher Gesittung? In diesen Worten, fürwahr, eröffnet sich die Aussicht auf einen menschlichen Verkehr der Völkergesellschaft, den erst ferne Tage schauen werden. Wie aber? Steht nicht dies Weltbürgerthum ein Todfeind gegenüber dem ersten und berechtigtsten Streben der Gegenwart, dem Drange nach nationaler Staatenbildung? Ich denke, nein. So tiefsinnig, so überschwänglich reich ist das Leben der Staaten, daß niemals eine Geistesrichtung allein darin herrschen kann. Noch heute leben sie. jene Gedanken von dem Weltbürgerthume. und eben jene dürfen sich heute Lessings getreueste Schüler nennen, die — seinem Geiste, nicht dem Klange seiner Rede folgend — am rührigsten für den nationalen Gedanken wirken. Wenn erst von den großen Culturvölkern jedes zerrissene sich geeint, jedes ge¬ knechtete aus seinem Volksgeiste heraus seinen Staat sich gestaltet hat. wenn damit verschwunden sind die größten, die gefährlichsten Anlässe des Haders, die bisher Staat mit Staat verfeindet: dann erst wird jener gesicherte Verkehr der Menschen, jenes Weltbürgerthum sich vollenden in einem tieferen, reicheren Sinne als Lessing meinte, und allüberall wird man reden von seinem Seher- Seiste. Dann auch wird die Welt ein Wort verstehen, das die Gegenwart in ihrem schweren Kampfe nimmermehr verstehen darf — das himmlisch milde: was Blut kostet ist gewiß kein Blut werth. Grenzboten I. 1«6ij.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/321>, abgerufen am 28.07.2024.