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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Daß solche Zeiten harten aufreibenden staatlichen Kampfes unsrem Volke
kommen würden, geahnt zum Mindesten hat es Lessing. Das bezeuge Ihnen
sein gehaltvolles Urtheil über die Geschichte. Wie sicher begriff er das der
Kunst verwandte Wesen der Geschichtsschreibung, wenn er die Bildung des "Ge¬
lehrten und des schönen Geistes zugleich" von dem Historiker forderte; wie viel
sicherer noch die politische Bedeutung der geschichtlichen Wissenschaft, die erst
in der jüngsten Vergangenheit sich entfaltet hat, wenn er das vielgcscholtene
Paradoxon aufstellte: im Grunde könne ein Jeder nur der Geschichtsschreiber
seiner eigenen Zeit sein. So schienen ihm alle Vortheile umfassender archiva-
lischer Forschung nichtig gegen die Vorzüge des zeitgenössischen Geschichtsschrei¬
bers, daß er seinen Menschen bis in Herz und Nieren blicken, daß er seine
Leser durch die Erzählung von ihrer eignen Schuld und Strafe im Innersten
ergreifen und -- vor Allem -- daß er eine Macht werden kann im poli
lischen Leben.

Soll ich noch schildern, wie wenig die Mitlebenden ihm dankten, wie
schwer das Geschick bis zum Ende ihn heimsuchte? Das widrige Sprichwort,
das in jenen weichlichen Tagen von Mund zu Munde ging, das Wort: "ge¬
theilter Schmerz ist halber Schmerz" hatte der Jüngling schon mit der stolzen
Gegenrede abgewiesen:


Was nutzt mir's, daß ein Freund mit mir gefällig weine?
Nichts, als daß ich in ihm mir zwiefach elend scheine.

Einsam ist er durch das Leben geschritten, und sein alle Weichheit des
Gefühls mißachtender Sinn neigte sich zu dem Grundsatze antiker Sitt¬
lichkeit, der Weiber und Sklaven von den höchsten Forderungen des Sit-
tengesetzes ausschloß. Sie wissen, wie ein Jahr einer glücklichen Ehe ihn
lehrte größer von den Frauen zu denken, und wie am Abend seines
Lebens jene schreckliche Klage sich ihm entrang: "meine Frau ist todt, und
diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Es ist mir lieb, daß mir
viele solche Erfahrungen nicht mehr übrig sein können, und ich bin ganz
leicht." Wenn er aber aus dem tiefen Schmerze hinausblickte in sein Haus
und in die Welt der Kunst, so hat er sicher empfunden, daß seine Saat auf¬
ging. Die Kinder seines Weibes hörte er verkehren in dem Ton schlichter offener
Herzlichkeit, er sah eine segensreiche Verwandlung des häuslichen Lebens und
durfte sich sagen, daß er selber ein Großes daran gewirkt. Und in der Kunst,
deren Fesseln er gebrochen? Da stürmte Götz v. Berlichingen über die Bretter,
und die Jünglinge klagten in überströmender Empfindung um die Leiden des
jungen Werther. Mochte der Maßvolle der regellosen Weise des jungen Ge¬
schlechtes zürnen und spotten über die weichen Gefühle die seinen Kellerlöcher
Sinn nie berührt, und die Rechte der Cultur vertheidigen wider Rousseaus
Naturschwärmerei: -- mit freudigem Verständniß hat er doch den Genius begrüßt,


Daß solche Zeiten harten aufreibenden staatlichen Kampfes unsrem Volke
kommen würden, geahnt zum Mindesten hat es Lessing. Das bezeuge Ihnen
sein gehaltvolles Urtheil über die Geschichte. Wie sicher begriff er das der
Kunst verwandte Wesen der Geschichtsschreibung, wenn er die Bildung des »Ge¬
lehrten und des schönen Geistes zugleich" von dem Historiker forderte; wie viel
sicherer noch die politische Bedeutung der geschichtlichen Wissenschaft, die erst
in der jüngsten Vergangenheit sich entfaltet hat, wenn er das vielgcscholtene
Paradoxon aufstellte: im Grunde könne ein Jeder nur der Geschichtsschreiber
seiner eigenen Zeit sein. So schienen ihm alle Vortheile umfassender archiva-
lischer Forschung nichtig gegen die Vorzüge des zeitgenössischen Geschichtsschrei¬
bers, daß er seinen Menschen bis in Herz und Nieren blicken, daß er seine
Leser durch die Erzählung von ihrer eignen Schuld und Strafe im Innersten
ergreifen und — vor Allem — daß er eine Macht werden kann im poli
lischen Leben.

Soll ich noch schildern, wie wenig die Mitlebenden ihm dankten, wie
schwer das Geschick bis zum Ende ihn heimsuchte? Das widrige Sprichwort,
das in jenen weichlichen Tagen von Mund zu Munde ging, das Wort: „ge¬
theilter Schmerz ist halber Schmerz" hatte der Jüngling schon mit der stolzen
Gegenrede abgewiesen:


Was nutzt mir's, daß ein Freund mit mir gefällig weine?
Nichts, als daß ich in ihm mir zwiefach elend scheine.

Einsam ist er durch das Leben geschritten, und sein alle Weichheit des
Gefühls mißachtender Sinn neigte sich zu dem Grundsatze antiker Sitt¬
lichkeit, der Weiber und Sklaven von den höchsten Forderungen des Sit-
tengesetzes ausschloß. Sie wissen, wie ein Jahr einer glücklichen Ehe ihn
lehrte größer von den Frauen zu denken, und wie am Abend seines
Lebens jene schreckliche Klage sich ihm entrang: „meine Frau ist todt, und
diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Es ist mir lieb, daß mir
viele solche Erfahrungen nicht mehr übrig sein können, und ich bin ganz
leicht." Wenn er aber aus dem tiefen Schmerze hinausblickte in sein Haus
und in die Welt der Kunst, so hat er sicher empfunden, daß seine Saat auf¬
ging. Die Kinder seines Weibes hörte er verkehren in dem Ton schlichter offener
Herzlichkeit, er sah eine segensreiche Verwandlung des häuslichen Lebens und
durfte sich sagen, daß er selber ein Großes daran gewirkt. Und in der Kunst,
deren Fesseln er gebrochen? Da stürmte Götz v. Berlichingen über die Bretter,
und die Jünglinge klagten in überströmender Empfindung um die Leiden des
jungen Werther. Mochte der Maßvolle der regellosen Weise des jungen Ge¬
schlechtes zürnen und spotten über die weichen Gefühle die seinen Kellerlöcher
Sinn nie berührt, und die Rechte der Cultur vertheidigen wider Rousseaus
Naturschwärmerei: — mit freudigem Verständniß hat er doch den Genius begrüßt,


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[0322] Daß solche Zeiten harten aufreibenden staatlichen Kampfes unsrem Volke kommen würden, geahnt zum Mindesten hat es Lessing. Das bezeuge Ihnen sein gehaltvolles Urtheil über die Geschichte. Wie sicher begriff er das der Kunst verwandte Wesen der Geschichtsschreibung, wenn er die Bildung des »Ge¬ lehrten und des schönen Geistes zugleich" von dem Historiker forderte; wie viel sicherer noch die politische Bedeutung der geschichtlichen Wissenschaft, die erst in der jüngsten Vergangenheit sich entfaltet hat, wenn er das vielgcscholtene Paradoxon aufstellte: im Grunde könne ein Jeder nur der Geschichtsschreiber seiner eigenen Zeit sein. So schienen ihm alle Vortheile umfassender archiva- lischer Forschung nichtig gegen die Vorzüge des zeitgenössischen Geschichtsschrei¬ bers, daß er seinen Menschen bis in Herz und Nieren blicken, daß er seine Leser durch die Erzählung von ihrer eignen Schuld und Strafe im Innersten ergreifen und — vor Allem — daß er eine Macht werden kann im poli lischen Leben. Soll ich noch schildern, wie wenig die Mitlebenden ihm dankten, wie schwer das Geschick bis zum Ende ihn heimsuchte? Das widrige Sprichwort, das in jenen weichlichen Tagen von Mund zu Munde ging, das Wort: „ge¬ theilter Schmerz ist halber Schmerz" hatte der Jüngling schon mit der stolzen Gegenrede abgewiesen: Was nutzt mir's, daß ein Freund mit mir gefällig weine? Nichts, als daß ich in ihm mir zwiefach elend scheine. Einsam ist er durch das Leben geschritten, und sein alle Weichheit des Gefühls mißachtender Sinn neigte sich zu dem Grundsatze antiker Sitt¬ lichkeit, der Weiber und Sklaven von den höchsten Forderungen des Sit- tengesetzes ausschloß. Sie wissen, wie ein Jahr einer glücklichen Ehe ihn lehrte größer von den Frauen zu denken, und wie am Abend seines Lebens jene schreckliche Klage sich ihm entrang: „meine Frau ist todt, und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Es ist mir lieb, daß mir viele solche Erfahrungen nicht mehr übrig sein können, und ich bin ganz leicht." Wenn er aber aus dem tiefen Schmerze hinausblickte in sein Haus und in die Welt der Kunst, so hat er sicher empfunden, daß seine Saat auf¬ ging. Die Kinder seines Weibes hörte er verkehren in dem Ton schlichter offener Herzlichkeit, er sah eine segensreiche Verwandlung des häuslichen Lebens und durfte sich sagen, daß er selber ein Großes daran gewirkt. Und in der Kunst, deren Fesseln er gebrochen? Da stürmte Götz v. Berlichingen über die Bretter, und die Jünglinge klagten in überströmender Empfindung um die Leiden des jungen Werther. Mochte der Maßvolle der regellosen Weise des jungen Ge¬ schlechtes zürnen und spotten über die weichen Gefühle die seinen Kellerlöcher Sinn nie berührt, und die Rechte der Cultur vertheidigen wider Rousseaus Naturschwärmerei: — mit freudigem Verständniß hat er doch den Genius begrüßt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/322>, abgerufen am 25.11.2024.