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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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hierauf mit einem kurzen Nein antworten. Aber auch zu einem herzhaften Ja
werden sich nur Wenige zwingen. Denn gelernt haben wir endlich, jeden
Mann zu fragen, ob er ein Vaterland habe, ob er das Wohl und Weh des
Gemeinwesens als seine Lust und sein Leid empfinde? Hier aber erscheint mo¬
dernen Augen eine Lücke in Lessings Bildung. Wer stimmt ihm nicht zu, wenn
er die Freunde Ramler und Gleim tadelt, daß in ihren preußischen Kriegs¬
liedern der Patriot den Dichter überschreie? Wer entschuldigt es nicht, daß dem
Mitlebenden der welthistorische Sinn des siebenjährigen Kriegs verschlossen blieb,
und er darin allein den großen Genius des Königs zu bewundern fand? Und
doch, stellen Sie eine Ode Ramlers, ein Lied des Preußischen Grenadiers neben
jenen geistsprühenden Brief Lessings, der in solchem Patriotismus nur "eine
heroische Schwachheit" sah: -- und Sie werden gestehen, daß auf diesem Ge¬
biete Lessing jene ärmeren Geister um ihren Reichthum beneiden konnte: sie
waren reicher um die große Empfindung der Vaterlandsliebe.

Selbst in Tagen, die des freien politischen Lebens entbehren, entzieht sich
deiner gänzlich der Einwirkung des Staats. So läßt sich auch von ihm man¬
ches Wort und manche That aufweisen zum Belege, daß er die Unfreiheit, die
Kleinheit deS deutschen Staatslebens empfand: wie er gleich seinem Geistes¬
verwandten Thomasius hinausstürmte aus der Zahmheit und Enge des kur-
süchsischen Wesens, wie er mit überlegenem Lächeln auf den Gegensatz des
Sachsenthums und Preußenthums hinabsah, wie er das engherzige Mäcenaten-
thum des Pfälzer Kurfürsten hochsinnig zurückwies, wie auch ihm die Klage sich
entrang: wann werde Deutschland je Einem Beherrscher gehorchen? Aber blicken
Sie von solchen vereinzelten Zügen auf jene Freiheitstragödie Henzi, die von
blinden Verehrern als ein ganz modernes Werk gepriesen wird, so erkennen Sie
sofort, wie ganz anders als die Gegenwart Lessings Tage sich zu den Kämpfen
des Staatslebens stellten. Welche Armuth der Motive hier bei ihm, der uns
überall sonst durch die Fülle poetischen Details entzückt. Wie künstlich wird
doch die lebendige Fülle des Parteiwesens zugespitzt zu dem kahlen abstracten
Gegensatze von Tyrannei und Freiheit! Nicht blos die Jugend des Dichters ist
schuld an solcher Armuth, die Gesinnung eines Bürgerthums vielmehr spiegelt
sich darin wieder, das die werkthätige Theilnahme am Staate noch nicht kannte
und darum von dem Inhalte politischer Kämpfe noch keine Anschauung besaß.
Nur delührt offenbar, an wenigen Stellen berührt hat Lessings Denken die
politischen Fragen. Den Publicisten von Gewerbe rief er sogar, seinem prak¬
tischen Wesen getreu, die Mahnung zu, solche Dinge zu überlassen "dem
Staatsmanne und vornehmlich demjenigen, den die Natur zum Weltweisen
machen wollte, weil sie ihn zum Vorbilde der Könige machte".

Trotzdem sind jene hingeworfenen politischen Gedanken Lessings keineswegs
überlebt, nicht einmal erledigt. Denn wie man von der Humanität der Deut-


hierauf mit einem kurzen Nein antworten. Aber auch zu einem herzhaften Ja
werden sich nur Wenige zwingen. Denn gelernt haben wir endlich, jeden
Mann zu fragen, ob er ein Vaterland habe, ob er das Wohl und Weh des
Gemeinwesens als seine Lust und sein Leid empfinde? Hier aber erscheint mo¬
dernen Augen eine Lücke in Lessings Bildung. Wer stimmt ihm nicht zu, wenn
er die Freunde Ramler und Gleim tadelt, daß in ihren preußischen Kriegs¬
liedern der Patriot den Dichter überschreie? Wer entschuldigt es nicht, daß dem
Mitlebenden der welthistorische Sinn des siebenjährigen Kriegs verschlossen blieb,
und er darin allein den großen Genius des Königs zu bewundern fand? Und
doch, stellen Sie eine Ode Ramlers, ein Lied des Preußischen Grenadiers neben
jenen geistsprühenden Brief Lessings, der in solchem Patriotismus nur „eine
heroische Schwachheit" sah: — und Sie werden gestehen, daß auf diesem Ge¬
biete Lessing jene ärmeren Geister um ihren Reichthum beneiden konnte: sie
waren reicher um die große Empfindung der Vaterlandsliebe.

Selbst in Tagen, die des freien politischen Lebens entbehren, entzieht sich
deiner gänzlich der Einwirkung des Staats. So läßt sich auch von ihm man¬
ches Wort und manche That aufweisen zum Belege, daß er die Unfreiheit, die
Kleinheit deS deutschen Staatslebens empfand: wie er gleich seinem Geistes¬
verwandten Thomasius hinausstürmte aus der Zahmheit und Enge des kur-
süchsischen Wesens, wie er mit überlegenem Lächeln auf den Gegensatz des
Sachsenthums und Preußenthums hinabsah, wie er das engherzige Mäcenaten-
thum des Pfälzer Kurfürsten hochsinnig zurückwies, wie auch ihm die Klage sich
entrang: wann werde Deutschland je Einem Beherrscher gehorchen? Aber blicken
Sie von solchen vereinzelten Zügen auf jene Freiheitstragödie Henzi, die von
blinden Verehrern als ein ganz modernes Werk gepriesen wird, so erkennen Sie
sofort, wie ganz anders als die Gegenwart Lessings Tage sich zu den Kämpfen
des Staatslebens stellten. Welche Armuth der Motive hier bei ihm, der uns
überall sonst durch die Fülle poetischen Details entzückt. Wie künstlich wird
doch die lebendige Fülle des Parteiwesens zugespitzt zu dem kahlen abstracten
Gegensatze von Tyrannei und Freiheit! Nicht blos die Jugend des Dichters ist
schuld an solcher Armuth, die Gesinnung eines Bürgerthums vielmehr spiegelt
sich darin wieder, das die werkthätige Theilnahme am Staate noch nicht kannte
und darum von dem Inhalte politischer Kämpfe noch keine Anschauung besaß.
Nur delührt offenbar, an wenigen Stellen berührt hat Lessings Denken die
politischen Fragen. Den Publicisten von Gewerbe rief er sogar, seinem prak¬
tischen Wesen getreu, die Mahnung zu, solche Dinge zu überlassen „dem
Staatsmanne und vornehmlich demjenigen, den die Natur zum Weltweisen
machen wollte, weil sie ihn zum Vorbilde der Könige machte".

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überlebt, nicht einmal erledigt. Denn wie man von der Humanität der Deut-


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[0320] hierauf mit einem kurzen Nein antworten. Aber auch zu einem herzhaften Ja werden sich nur Wenige zwingen. Denn gelernt haben wir endlich, jeden Mann zu fragen, ob er ein Vaterland habe, ob er das Wohl und Weh des Gemeinwesens als seine Lust und sein Leid empfinde? Hier aber erscheint mo¬ dernen Augen eine Lücke in Lessings Bildung. Wer stimmt ihm nicht zu, wenn er die Freunde Ramler und Gleim tadelt, daß in ihren preußischen Kriegs¬ liedern der Patriot den Dichter überschreie? Wer entschuldigt es nicht, daß dem Mitlebenden der welthistorische Sinn des siebenjährigen Kriegs verschlossen blieb, und er darin allein den großen Genius des Königs zu bewundern fand? Und doch, stellen Sie eine Ode Ramlers, ein Lied des Preußischen Grenadiers neben jenen geistsprühenden Brief Lessings, der in solchem Patriotismus nur „eine heroische Schwachheit" sah: — und Sie werden gestehen, daß auf diesem Ge¬ biete Lessing jene ärmeren Geister um ihren Reichthum beneiden konnte: sie waren reicher um die große Empfindung der Vaterlandsliebe. Selbst in Tagen, die des freien politischen Lebens entbehren, entzieht sich deiner gänzlich der Einwirkung des Staats. So läßt sich auch von ihm man¬ ches Wort und manche That aufweisen zum Belege, daß er die Unfreiheit, die Kleinheit deS deutschen Staatslebens empfand: wie er gleich seinem Geistes¬ verwandten Thomasius hinausstürmte aus der Zahmheit und Enge des kur- süchsischen Wesens, wie er mit überlegenem Lächeln auf den Gegensatz des Sachsenthums und Preußenthums hinabsah, wie er das engherzige Mäcenaten- thum des Pfälzer Kurfürsten hochsinnig zurückwies, wie auch ihm die Klage sich entrang: wann werde Deutschland je Einem Beherrscher gehorchen? Aber blicken Sie von solchen vereinzelten Zügen auf jene Freiheitstragödie Henzi, die von blinden Verehrern als ein ganz modernes Werk gepriesen wird, so erkennen Sie sofort, wie ganz anders als die Gegenwart Lessings Tage sich zu den Kämpfen des Staatslebens stellten. Welche Armuth der Motive hier bei ihm, der uns überall sonst durch die Fülle poetischen Details entzückt. Wie künstlich wird doch die lebendige Fülle des Parteiwesens zugespitzt zu dem kahlen abstracten Gegensatze von Tyrannei und Freiheit! Nicht blos die Jugend des Dichters ist schuld an solcher Armuth, die Gesinnung eines Bürgerthums vielmehr spiegelt sich darin wieder, das die werkthätige Theilnahme am Staate noch nicht kannte und darum von dem Inhalte politischer Kämpfe noch keine Anschauung besaß. Nur delührt offenbar, an wenigen Stellen berührt hat Lessings Denken die politischen Fragen. Den Publicisten von Gewerbe rief er sogar, seinem prak¬ tischen Wesen getreu, die Mahnung zu, solche Dinge zu überlassen „dem Staatsmanne und vornehmlich demjenigen, den die Natur zum Weltweisen machen wollte, weil sie ihn zum Vorbilde der Könige machte". Trotzdem sind jene hingeworfenen politischen Gedanken Lessings keineswegs überlebt, nicht einmal erledigt. Denn wie man von der Humanität der Deut-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/320>, abgerufen am 25.11.2024.