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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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sich vor uns auf eine unselige Kluft zwischen den Gedanken unsres Volks und
seinem politischen Zustand. Erst wenn die Ideen des Nathan in unsrer Ge¬
setzgebung sich verkörpert haben, dann erst dürfen wir uns rühmen in einer
gesitteten Zeit zu leben. Wie Sie auch denken mögen über den Inhalt von
Lessings theologischen Systeme: in Einem mindestens ist er schon jetzt der an¬
erkannte Lehrer unsres ganzen Volks: er hat die sittliche Gesinnung vorgezeich¬
net, daraus alle wissenschastiuhe Forschung entspringen soll. Er sagte: "ich
weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit zu opfern. Aber
das weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz oder gar
nicht zu lehren." Zum Gemeinplätze geworden sind seine Aussprüche über das
Recht der freien Forschung, und noch hat Keiner die Kühnheit jenes Wortes
überboten: "es ist nicht wahr, daß Speculationen über Gott und göttliche
Dinge der bürgerlichen Gesellschaft je nachtheilig geworden; nicht die Specu-
lationen -- der Unsinn, die Tyrannei, ihnen zu steuern."

Und alle diese Werke in einer durchsichtigen Form, daraus überall das
leuchtende Auge des Denkers hervorblickt. Komisch beinahe, wie in seinen
ersten Werken das leidenschaftlich bewegte Herz ankämpft gegen die Steifheit
des überlieferten Verses. Wie anders der der ungebundenen Rede auss Nächste
verwandte Jambus des Nathan und jene Prosa, die gar nicht anders kann
als die augenblickliche Stimmung des Schreibers getreulich widerspiegeln. Die
augenblickliche Stimmung, sage ich, denn Sie müsjcn mir den paradoxen Satz
erlauben: wenn so häufig geklagt wird über die Widersprüche in Lessings
Schriften, über die Schwierigkeit, aus seinen Briefen seine Herzensmeinung
herauszulesen, so kann ich in dieser Klage nur den sichersten Beweis für die
Wahrhaftigkeit, die Unmittelbarkeit seiner Schreibart finden. Wie ihm zu
Muthe war hat er geschrieben, jede Regung der Neckerei, des Widerspruchs¬
geistes, jeden Einfall eines halbfertigen Gcdankcngangs rücksichtslos heraus¬
gesprochen, jeder Uebertreibung übermüthig eine andre entgegengestellt. Und
eben weil ihn beim Schreiben nie der Gedanke störte, als könne je die Nach¬
welt über seinen Schriften grübeln, eben darum ist es so leicht, den Einen,
Stanzen Menschen aus all seinen Widersprüchen herauszufinden.

Fragen Sie endlich, wie Lessing sich stellte zu dem größten Gegenstande
männlicher Arbeit, zum Staate, so ließe sich wohl dawider fragen: ist es nicht
genug an den politischen Thaten, die ich soeben geschildert? Waren es nicht po¬
etische Thaten, als er die Schranken der bestehenden Stände durchbrach, als
^' ein Erzieher wurde des modernen Bürgerthums, als er unsrem Volke ein
starkes Selbstgefühl zurückgab, gegenüber der Kunst der Fremden und einem
Volke gedrückter Kleinbürger den unendlichen Gesichtskreis der Humanität er¬
schloß? Gewiß, nur jene sich liberal dünkenden Pedanten, welche alles staat¬
liche Leben allein in bestimmten Verfassungsformen enthalten glauben, werden


sich vor uns auf eine unselige Kluft zwischen den Gedanken unsres Volks und
seinem politischen Zustand. Erst wenn die Ideen des Nathan in unsrer Ge¬
setzgebung sich verkörpert haben, dann erst dürfen wir uns rühmen in einer
gesitteten Zeit zu leben. Wie Sie auch denken mögen über den Inhalt von
Lessings theologischen Systeme: in Einem mindestens ist er schon jetzt der an¬
erkannte Lehrer unsres ganzen Volks: er hat die sittliche Gesinnung vorgezeich¬
net, daraus alle wissenschastiuhe Forschung entspringen soll. Er sagte: „ich
weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit zu opfern. Aber
das weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz oder gar
nicht zu lehren." Zum Gemeinplätze geworden sind seine Aussprüche über das
Recht der freien Forschung, und noch hat Keiner die Kühnheit jenes Wortes
überboten: „es ist nicht wahr, daß Speculationen über Gott und göttliche
Dinge der bürgerlichen Gesellschaft je nachtheilig geworden; nicht die Specu-
lationen — der Unsinn, die Tyrannei, ihnen zu steuern."

Und alle diese Werke in einer durchsichtigen Form, daraus überall das
leuchtende Auge des Denkers hervorblickt. Komisch beinahe, wie in seinen
ersten Werken das leidenschaftlich bewegte Herz ankämpft gegen die Steifheit
des überlieferten Verses. Wie anders der der ungebundenen Rede auss Nächste
verwandte Jambus des Nathan und jene Prosa, die gar nicht anders kann
als die augenblickliche Stimmung des Schreibers getreulich widerspiegeln. Die
augenblickliche Stimmung, sage ich, denn Sie müsjcn mir den paradoxen Satz
erlauben: wenn so häufig geklagt wird über die Widersprüche in Lessings
Schriften, über die Schwierigkeit, aus seinen Briefen seine Herzensmeinung
herauszulesen, so kann ich in dieser Klage nur den sichersten Beweis für die
Wahrhaftigkeit, die Unmittelbarkeit seiner Schreibart finden. Wie ihm zu
Muthe war hat er geschrieben, jede Regung der Neckerei, des Widerspruchs¬
geistes, jeden Einfall eines halbfertigen Gcdankcngangs rücksichtslos heraus¬
gesprochen, jeder Uebertreibung übermüthig eine andre entgegengestellt. Und
eben weil ihn beim Schreiben nie der Gedanke störte, als könne je die Nach¬
welt über seinen Schriften grübeln, eben darum ist es so leicht, den Einen,
Stanzen Menschen aus all seinen Widersprüchen herauszufinden.

Fragen Sie endlich, wie Lessing sich stellte zu dem größten Gegenstande
männlicher Arbeit, zum Staate, so ließe sich wohl dawider fragen: ist es nicht
genug an den politischen Thaten, die ich soeben geschildert? Waren es nicht po¬
etische Thaten, als er die Schranken der bestehenden Stände durchbrach, als
^' ein Erzieher wurde des modernen Bürgerthums, als er unsrem Volke ein
starkes Selbstgefühl zurückgab, gegenüber der Kunst der Fremden und einem
Volke gedrückter Kleinbürger den unendlichen Gesichtskreis der Humanität er¬
schloß? Gewiß, nur jene sich liberal dünkenden Pedanten, welche alles staat¬
liche Leben allein in bestimmten Verfassungsformen enthalten glauben, werden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/319>, abgerufen am 25.11.2024.