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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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sondern es wird durch sie auch der vollständige Beweis hergestellt, daß Michel¬
angelo, der große Künstler, ein ebenso großer Mensch und Bürger gewesen,
ein Muster der. Rechtschaffenheit im öffentlichen wie im Privatleben. Außerdem
aber enthalten sie so Vieles über die Geschichte der gleichzeitigen Kunst und
Künstler, daß diese Sammlung eine Art Archiv der gesammten Kunstgeschichte
des Jahrhunderts bildet, das von ihm den Namen hat, und als der gewal¬
tige Mittelpunkt dieser künstlerischen Thätigkeit, als die unbestrittene, allver¬
ehrte Autorität erhebt sich Michelangelo selbst in seiner ganzen Größe."

Es liegt auf der Hand, welcher Schach hier noch verborgen sein muß, gerade
für eine solche Fassung der Aufgabe, wie sie Hermann Grimm sich gestellt hat,
nämlich Michelangelo im ganzen Zusammenhang seiner Zeit darzustellen, das
Leben des Künstlers zugleich in eine Geschichte des ganzen Zeitalters nicht blos
nach seinem kunsthistorischen, sondern auch nach seinen politischen, religiösen,
kulturgeschichtlichen Beziehungen zu verflechten.

Es gehört zu den ersten Anforderungen an die moderne Bivgraphik, das
Bild eines bedeutenden Mannes aufzutragen auf den Hintergrund der ganzen
Zeit, der er angehört. Die umgebende Welt erscheint theils als der Stoff,
mit welchem und in welchem er arbeitet, theils als ein Komplex befruchtender
Momente, die auf ihn wirken. Wir müssen kennen, was vor ihm war, um
zussverstehen, mit welcher Mission er an seinem Theile in die geschichtliche Ent¬
wicklung eingriff, und das Neue selbst wieder, das mit ihm in die Erscheinung
tritt, sind wir verpflichtet aus den allgemeinen Bedingungen der Zeit nach
zuweisen.

Diese Doppelaufgabe, mit dem Leben des Einzelnen zugleich die Geschichte
der Zeit zu verbinden, drängt sich nun wohl in seltenen Fällen so unabweis¬
bar von selbst, man kann sagen so verführerisch auf, als eben im Leben
Michelangelos. Unter all den mannigfaltigen Erscheinungen jenes vielbeweg-
ten Jahrhunderts wird es nicht leicht eine geben, die außerhalb des Gesichts¬
kreises fällt, den die Biographie Michelangelos im Auge zu behalten hat. In
diesem Sinn sagt Grimm: "er und die Ereignisse, die er erlebte, sind eins.
Je erhabener der Geist eines Mannes ist, je mehr erweitert sich der Umkreis,
den seine Blicke berühren, und was sie berühren, wird ein Theil seines Da¬
seins." Daß seine künstlerische Mission nur im Zusammenhang mit der gan¬
zen Kunstentwicklung seiner Zeit verstanden werben kann, versteht sich ohnedies
von selbst. Allein neben dem Künstler interessirt uns in nicht minderem Grade
der Mensch, der Denker, der Dichter, der die ersten Eindrücke einer idealen
Weltanschauung in der Schule Polizians und im Umgang mit den platonischen
Akademikern erhielt, der dann ein Schüler Savonarolas wurde und neben
seinem Dante die Bibel studirte, und der endlich gegen den Abend seines Le¬
bens mit der italienischen Reformationsbewegung in Verbindung steht und von


sondern es wird durch sie auch der vollständige Beweis hergestellt, daß Michel¬
angelo, der große Künstler, ein ebenso großer Mensch und Bürger gewesen,
ein Muster der. Rechtschaffenheit im öffentlichen wie im Privatleben. Außerdem
aber enthalten sie so Vieles über die Geschichte der gleichzeitigen Kunst und
Künstler, daß diese Sammlung eine Art Archiv der gesammten Kunstgeschichte
des Jahrhunderts bildet, das von ihm den Namen hat, und als der gewal¬
tige Mittelpunkt dieser künstlerischen Thätigkeit, als die unbestrittene, allver¬
ehrte Autorität erhebt sich Michelangelo selbst in seiner ganzen Größe."

Es liegt auf der Hand, welcher Schach hier noch verborgen sein muß, gerade
für eine solche Fassung der Aufgabe, wie sie Hermann Grimm sich gestellt hat,
nämlich Michelangelo im ganzen Zusammenhang seiner Zeit darzustellen, das
Leben des Künstlers zugleich in eine Geschichte des ganzen Zeitalters nicht blos
nach seinem kunsthistorischen, sondern auch nach seinen politischen, religiösen,
kulturgeschichtlichen Beziehungen zu verflechten.

Es gehört zu den ersten Anforderungen an die moderne Bivgraphik, das
Bild eines bedeutenden Mannes aufzutragen auf den Hintergrund der ganzen
Zeit, der er angehört. Die umgebende Welt erscheint theils als der Stoff,
mit welchem und in welchem er arbeitet, theils als ein Komplex befruchtender
Momente, die auf ihn wirken. Wir müssen kennen, was vor ihm war, um
zussverstehen, mit welcher Mission er an seinem Theile in die geschichtliche Ent¬
wicklung eingriff, und das Neue selbst wieder, das mit ihm in die Erscheinung
tritt, sind wir verpflichtet aus den allgemeinen Bedingungen der Zeit nach
zuweisen.

Diese Doppelaufgabe, mit dem Leben des Einzelnen zugleich die Geschichte
der Zeit zu verbinden, drängt sich nun wohl in seltenen Fällen so unabweis¬
bar von selbst, man kann sagen so verführerisch auf, als eben im Leben
Michelangelos. Unter all den mannigfaltigen Erscheinungen jenes vielbeweg-
ten Jahrhunderts wird es nicht leicht eine geben, die außerhalb des Gesichts¬
kreises fällt, den die Biographie Michelangelos im Auge zu behalten hat. In
diesem Sinn sagt Grimm: „er und die Ereignisse, die er erlebte, sind eins.
Je erhabener der Geist eines Mannes ist, je mehr erweitert sich der Umkreis,
den seine Blicke berühren, und was sie berühren, wird ein Theil seines Da¬
seins." Daß seine künstlerische Mission nur im Zusammenhang mit der gan¬
zen Kunstentwicklung seiner Zeit verstanden werben kann, versteht sich ohnedies
von selbst. Allein neben dem Künstler interessirt uns in nicht minderem Grade
der Mensch, der Denker, der Dichter, der die ersten Eindrücke einer idealen
Weltanschauung in der Schule Polizians und im Umgang mit den platonischen
Akademikern erhielt, der dann ein Schüler Savonarolas wurde und neben
seinem Dante die Bibel studirte, und der endlich gegen den Abend seines Le¬
bens mit der italienischen Reformationsbewegung in Verbindung steht und von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/302>, abgerufen am 25.11.2024.