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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Sollte nicht diesem Schauspiele eine Eigenschaft schädlich seyn, die hier
angemerkt zu werden verdient: die Handlungen im Cophta kommen der Wirk¬
lichkeit zu nahe, der ernsthafte Ton, der darinnen herrscht, läßt dem Zuschauer
zu viel Zeit, moralische Betrachtungen anzustellen und unterhält ihn zu spar¬
sam beim Lächerlichen. Die leeren Unterhaltungen mit Unsichtbaren verwundern
vielleicht bei der ersten Vorstellung; sobald man aber sie gewöhnt worden ist,
wirkt ihr innerer Gehalt zu sehr auf den Zuhörer. So ist es auch mit den
Ceremonien, die wenn sie nicht mit großem theatralischen Aufwande und in der
Form einer Art Ballets gegeben werden, ebenfalls auf die Dauer keine Be¬
friedigung gewähren.

Da dieses Stück den Drama's einverleibt ist und durch eine gewisse Zart¬
heit im Gefühle der Nichte Anspruch auf Empfindung machen kann; so möchte
der Zuschauer wohl wünschen, daß einige liebenswürdige Charaktere ihm dabei
mit zu Theile gekommen wären. Denn unter der Rotte von Dieben und Be¬
trügern bleibt der Ritter doch nur ein kurzsichtiger, schwankender Mensch, den
es am Ende beinahe gereut so gehandelt zu haben, wie er nur einzig han¬
deln konnte, um nicht Mitschuldiger der Diebe und Hochverräther zu werden.
Und die Nichte bleibt gewaltig suM ü. eautioir, indem sie erst morgen ent¬
decken möchte, wozu sie heute durch den Zufall genöthigt wird.

Wollte sich Goethe die Mühe geben, diesem Stücke eine andere Form an¬
zupassen, so möchte die einer komischen Oper vielleicht Vortheile gewähren.
In Versen mit Musik begleitet, klingt Manches anders, als in der wirklichen
Sprache; das Feld ist dann weiter und bequemer. Liüvo insliori."

Wahrscheinlich auf Schlegels "Ion" bezieht sich folgendes Urtheil (Br. 175
vom Februar 1802):

"Gewiß hat diese Schrift bedeutende Verdienste, da aber das gewählte
Sujet nur weniger Abwechselung in seiner Bearbeitung fähig ist, so war die
natürliche Folge, daß viele überflüssige Momente eintreten mußten und man¬
cherlei Ueberflüssiges, Gedehntes. Langweiliges in die Rede kam. Im Gan¬
zen ist das Opus wohl etwas laulich und die schwachen häusigen Lückenbüßer tödten
dasjenige, was ans Feurige sich hie und da nähert. Die Sprache ist, dünkt
mir, meistens sehr hart und bestärkt mich in dem Glauben, daß das 6ern3
dieser Jamben äußerst gefährlich ist, indem bei einem Autor, der nicht von
der Natur das Organ erhalten hat, diese Versart mit Eleganz aus seiner Fe¬
der fließen zu lassen, dieses Metrum leichte in höckerichte, so zu sagen pedan¬
tische Prosa ausartet."

Man weiß, daß Schiller das Schlegelsche Stück zum guten Theil nur
darum aufführen ließ, daß man "die äußerst obligaten Silbenmaße sprechen
lassen und sprechen hören könne." Ebenso bekannt ist, daß der "Ion" ganz so
we "Alarcos" Fiasco machte. Das Publicum sah nicht einmal die "bedeuten-


Grenzbvtm IV. 18K3. . 7

Sollte nicht diesem Schauspiele eine Eigenschaft schädlich seyn, die hier
angemerkt zu werden verdient: die Handlungen im Cophta kommen der Wirk¬
lichkeit zu nahe, der ernsthafte Ton, der darinnen herrscht, läßt dem Zuschauer
zu viel Zeit, moralische Betrachtungen anzustellen und unterhält ihn zu spar¬
sam beim Lächerlichen. Die leeren Unterhaltungen mit Unsichtbaren verwundern
vielleicht bei der ersten Vorstellung; sobald man aber sie gewöhnt worden ist,
wirkt ihr innerer Gehalt zu sehr auf den Zuhörer. So ist es auch mit den
Ceremonien, die wenn sie nicht mit großem theatralischen Aufwande und in der
Form einer Art Ballets gegeben werden, ebenfalls auf die Dauer keine Be¬
friedigung gewähren.

Da dieses Stück den Drama's einverleibt ist und durch eine gewisse Zart¬
heit im Gefühle der Nichte Anspruch auf Empfindung machen kann; so möchte
der Zuschauer wohl wünschen, daß einige liebenswürdige Charaktere ihm dabei
mit zu Theile gekommen wären. Denn unter der Rotte von Dieben und Be¬
trügern bleibt der Ritter doch nur ein kurzsichtiger, schwankender Mensch, den
es am Ende beinahe gereut so gehandelt zu haben, wie er nur einzig han¬
deln konnte, um nicht Mitschuldiger der Diebe und Hochverräther zu werden.
Und die Nichte bleibt gewaltig suM ü. eautioir, indem sie erst morgen ent¬
decken möchte, wozu sie heute durch den Zufall genöthigt wird.

Wollte sich Goethe die Mühe geben, diesem Stücke eine andere Form an¬
zupassen, so möchte die einer komischen Oper vielleicht Vortheile gewähren.
In Versen mit Musik begleitet, klingt Manches anders, als in der wirklichen
Sprache; das Feld ist dann weiter und bequemer. Liüvo insliori."

Wahrscheinlich auf Schlegels „Ion" bezieht sich folgendes Urtheil (Br. 175
vom Februar 1802):

„Gewiß hat diese Schrift bedeutende Verdienste, da aber das gewählte
Sujet nur weniger Abwechselung in seiner Bearbeitung fähig ist, so war die
natürliche Folge, daß viele überflüssige Momente eintreten mußten und man¬
cherlei Ueberflüssiges, Gedehntes. Langweiliges in die Rede kam. Im Gan¬
zen ist das Opus wohl etwas laulich und die schwachen häusigen Lückenbüßer tödten
dasjenige, was ans Feurige sich hie und da nähert. Die Sprache ist, dünkt
mir, meistens sehr hart und bestärkt mich in dem Glauben, daß das 6ern3
dieser Jamben äußerst gefährlich ist, indem bei einem Autor, der nicht von
der Natur das Organ erhalten hat, diese Versart mit Eleganz aus seiner Fe¬
der fließen zu lassen, dieses Metrum leichte in höckerichte, so zu sagen pedan¬
tische Prosa ausartet."

Man weiß, daß Schiller das Schlegelsche Stück zum guten Theil nur
darum aufführen ließ, daß man „die äußerst obligaten Silbenmaße sprechen
lassen und sprechen hören könne." Ebenso bekannt ist, daß der „Ion" ganz so
we „Alarcos" Fiasco machte. Das Publicum sah nicht einmal die „bedeuten-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/57>, abgerufen am 15.01.2025.