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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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gehört, bewegen, eine Handlung zu begeben, welche sie an den Galgen oder
ins Zuchthaus bringen könnte. Aber nicht allein das ehebrecherische Verhält¬
niß ist es, was den Zuschauer anstößt, sondern auch das des Domherrn zur
Prinzeß, der Tochter seines Fürsten, die er nicht zu ehelichen, aber wohl zu
verführen gedenkt. Obwohl ein ähnlicher Fall in der Hochzeit des Figaro vor¬
kömmt, so ist dieser doch nur einzig auf der Bühne; das Pariser Publikum,
das schon damals seltsam gestimmt war, ertrug ihn, weil Figaro durch
mancherlei Ursachen ein Lieblingsstück ihm wurde und auf die Autorität dieses
Publikums gestützt, ertrug mau ihn an mehrern Orten. Demohngeachtet bleibt
die Frage unerörtert, ob deutsche theatralische Schriftsteller es wagen dürfen
und gut daran thun, dem Beispiele und der Laune Beaumarchais zu folgen.
Wenn obige Bemerkungen gegründet sind, so möchte wohl daraus folgen, daß
die Veränderungen der "Situationen große Consequenzen für den Bau des so
sehr durchdachten und konsequenten Stückes "ach sich führen und die Umarbei¬
tung desselben nöthig machen würden."

Sollten aber wohl die anstößigen Verhältnisse alleine schuld seyn, daß
dieses Schauspiel nicht allgemein gefiele? Man könnte vielleicht glauben, daß
das Publikum einen Widerwillen gegen die öffentliche' Ausstellung gewisser Be¬
trügereien spürte, durch welche sehr ausgezeichnete Personen an der Nase herum¬
geführt worden sind, und baß eine Wahrbeitsscheue der Zuschauer diesem Schau¬
spiele Schaden thäte. Bedenkt man aber, daß an allen Orten, wo es gespielt
worden, der wenigste Theil des Publikums in magisch-freimaurerischen Ver¬
hältnissen gewesen ist, daß die Zuschauer in das Theater strömen, wenn Iff-
landsche oder Kotzebuesche Stücke gegeben werden, in weichen die drückendste
Moral über die ängstlichen, bürgerlichen und häuslichen Verhältnisse so hypo¬
chondrisch wie möglich, oft beißend, meistens aber strafend gepredigt wird, so
sollte man bezweifeln, daß die Wahrheitsliebe, die in Goethes Schauspiel
herrscht, der Furcht vor Wahrheit des Publikums auf eine dem Groß-Cophta
schädliche Art entgegenstehe" könnte.

Sollte nicht der Genre, i" welchem dieses Stück geschrieben ist, daran
Schuld sein, daß die Zuschauer lau dabei binden? Eigentlich gehört es, seiner
Behandlungsart nach, in die Klasse der Drama's, während 'der Charakter des
sujets es entweder zu einer Posse, oder zu einer Tragödie stempeln möchte.
Letzteres hat es im Sinne des Autors nie werden sollen, sondern es nähert sich
wohl eher der Komödie und zwar der Art, die man in Frankreich chargirt
nennt; hierzu ist es aber zu ernsthaft und hauptsächlich zu lang. Eine chargirte
Komödie, oder eine Posse muß ihrer Natur nach kurz seyn, denn lange
dauernde Späße ermüden und ein zu gedankenreicher, auseinander gehäufter,
vielwörtlicher Witz verfehlt gewöhnlich sein Ziel. Der Witz verlangt eine ge¬
wisse prosaische Einfachheit in den Gedanken, in seinem Ziele und im Ausdruck.


gehört, bewegen, eine Handlung zu begeben, welche sie an den Galgen oder
ins Zuchthaus bringen könnte. Aber nicht allein das ehebrecherische Verhält¬
niß ist es, was den Zuschauer anstößt, sondern auch das des Domherrn zur
Prinzeß, der Tochter seines Fürsten, die er nicht zu ehelichen, aber wohl zu
verführen gedenkt. Obwohl ein ähnlicher Fall in der Hochzeit des Figaro vor¬
kömmt, so ist dieser doch nur einzig auf der Bühne; das Pariser Publikum,
das schon damals seltsam gestimmt war, ertrug ihn, weil Figaro durch
mancherlei Ursachen ein Lieblingsstück ihm wurde und auf die Autorität dieses
Publikums gestützt, ertrug mau ihn an mehrern Orten. Demohngeachtet bleibt
die Frage unerörtert, ob deutsche theatralische Schriftsteller es wagen dürfen
und gut daran thun, dem Beispiele und der Laune Beaumarchais zu folgen.
Wenn obige Bemerkungen gegründet sind, so möchte wohl daraus folgen, daß
die Veränderungen der „Situationen große Consequenzen für den Bau des so
sehr durchdachten und konsequenten Stückes »ach sich führen und die Umarbei¬
tung desselben nöthig machen würden."

Sollten aber wohl die anstößigen Verhältnisse alleine schuld seyn, daß
dieses Schauspiel nicht allgemein gefiele? Man könnte vielleicht glauben, daß
das Publikum einen Widerwillen gegen die öffentliche' Ausstellung gewisser Be¬
trügereien spürte, durch welche sehr ausgezeichnete Personen an der Nase herum¬
geführt worden sind, und baß eine Wahrbeitsscheue der Zuschauer diesem Schau¬
spiele Schaden thäte. Bedenkt man aber, daß an allen Orten, wo es gespielt
worden, der wenigste Theil des Publikums in magisch-freimaurerischen Ver¬
hältnissen gewesen ist, daß die Zuschauer in das Theater strömen, wenn Iff-
landsche oder Kotzebuesche Stücke gegeben werden, in weichen die drückendste
Moral über die ängstlichen, bürgerlichen und häuslichen Verhältnisse so hypo¬
chondrisch wie möglich, oft beißend, meistens aber strafend gepredigt wird, so
sollte man bezweifeln, daß die Wahrheitsliebe, die in Goethes Schauspiel
herrscht, der Furcht vor Wahrheit des Publikums auf eine dem Groß-Cophta
schädliche Art entgegenstehe» könnte.

Sollte nicht der Genre, i» welchem dieses Stück geschrieben ist, daran
Schuld sein, daß die Zuschauer lau dabei binden? Eigentlich gehört es, seiner
Behandlungsart nach, in die Klasse der Drama's, während 'der Charakter des
sujets es entweder zu einer Posse, oder zu einer Tragödie stempeln möchte.
Letzteres hat es im Sinne des Autors nie werden sollen, sondern es nähert sich
wohl eher der Komödie und zwar der Art, die man in Frankreich chargirt
nennt; hierzu ist es aber zu ernsthaft und hauptsächlich zu lang. Eine chargirte
Komödie, oder eine Posse muß ihrer Natur nach kurz seyn, denn lange
dauernde Späße ermüden und ein zu gedankenreicher, auseinander gehäufter,
vielwörtlicher Witz verfehlt gewöhnlich sein Ziel. Der Witz verlangt eine ge¬
wisse prosaische Einfachheit in den Gedanken, in seinem Ziele und im Ausdruck.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/56>, abgerufen am 15.01.2025.