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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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an gerechnet, also Anno Domini 1964 nicht weniger als 350 Millionen, schreibe
dreihundert und fünfzig Millionen Einwohner haben, und darunter werden fer¬
ner circa 160 bis 170 Millionen Menschen von deutschem Stamm und mit
deutscher Sprache sein, wobei, wohl zu bemerken, die deutsche Einwanderung auf
keine größere Zahl als fünfzigtausend Kopfe jährlich anzusteigen braucht, eine
Zahl, welche wiederholt schon bedeutend überschritten worden ist und ohne
Zweifel nach Beendigung des Krieges wieder beträchtlich überschritten werden
wird. Um dieselbe Zeit aber wird Deutschland, wofern seine Bevölkerung
nicht stärker als in den letzten vier Decennien, also jährlich nur um IV" Pro¬
cent wächst, ungefähr anderthalbhundert Millionen Einwohner zählen -- mit
andern Worten: es werden um das Jahr 1964 mehr Deutsche in der
nordamerikanischen Republik als in Deutschland selber wohnen.

Ob gewisse hohe Herrschaften, welche mit solcher Sicherheit ihren Weizen
"bis an das Ende der Tage" blühen sahen, nicht vielleicht wohl thäten, sich die
möglichen Konsequenzen dieser einfachen Wahrheiten klar zu machen?

Man kann einwerfen, der Strom der deutschen Auswanderung braucht nicht
immer seinen Weg nach dem Westen zu nehmen, und er braucht, wenn es der
Westen sein muß, statt wie im Mittelalter das östliche Slaven- und Magy¬
arenland, nicht unbedingt in die amerikanische Union zu münden.

Wir antworten darauf: eine starke deutsche Auswanderung nach Polen und
den untern Donauländern setzt voraus, daß Rußland seine Natur völlig ge¬
ändert habe und statt auch nach Westen nur nach Osten und Süden vordringe.
Kleinasien ferner, ein für deutsche Ansiedelungen sehr wünschenswerthes Land,
wird unsern Colonisten erst offen stehen, wenn die Türken nicht mehr am Bos¬
porus wohnen. Algerien steht außer Frage; denn alle Versuche, hier Nieder¬
lassungen zu gründen, sind bis jetzt entweder ganz gescheitert oder auf so
kümmerliche Ergebnisse beschränkt geblieben, daß auch für die Zukunft wenig
von einer Besiedelung dieses Landstrichs durch Deutsche zu erwarten ist.
Australien ist zu fern, um die Masse anzuziehen, und nur die Entdeckung
der Goldlager lenkte in den letzten Jahren einen beträchtlichen Arm des euro¬
päischen Auswandererstroms dahin. Endlich sind nicht nur alle tropischen und
polaren Länder zu deutschen Niederlassungen ungeeignet, sondern auch viele der
neuerdings lebhaft empfohlenen Staaten Südamerikas, namentlich die Prairie¬
striche von Brasilien und den Laplata-Staaten. Die letzteren taugen nicht für
Deutsche, da sie einen höchst einförmigen Boden, ein zu Ausschreitungen ge¬
neigtes Klima und das größte Einerlei der Bodenerzeugnisse zeigen. Sie sind
ferner wasserarm, weil zu weit von den Gebirgen entfernt, sie haben keine
Bäche und kleinen Flüsse und besitzen nur wenige Stellen, wo durch Graben
von Brunnen einer zahlreichen ackerbautreibenden Bevölkerung die erforderliche
Menge von Wasser geschafft werden könnte. Die mächtigen Ströme dieser Leim-


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an gerechnet, also Anno Domini 1964 nicht weniger als 350 Millionen, schreibe
dreihundert und fünfzig Millionen Einwohner haben, und darunter werden fer¬
ner circa 160 bis 170 Millionen Menschen von deutschem Stamm und mit
deutscher Sprache sein, wobei, wohl zu bemerken, die deutsche Einwanderung auf
keine größere Zahl als fünfzigtausend Kopfe jährlich anzusteigen braucht, eine
Zahl, welche wiederholt schon bedeutend überschritten worden ist und ohne
Zweifel nach Beendigung des Krieges wieder beträchtlich überschritten werden
wird. Um dieselbe Zeit aber wird Deutschland, wofern seine Bevölkerung
nicht stärker als in den letzten vier Decennien, also jährlich nur um IV» Pro¬
cent wächst, ungefähr anderthalbhundert Millionen Einwohner zählen — mit
andern Worten: es werden um das Jahr 1964 mehr Deutsche in der
nordamerikanischen Republik als in Deutschland selber wohnen.

Ob gewisse hohe Herrschaften, welche mit solcher Sicherheit ihren Weizen
„bis an das Ende der Tage" blühen sahen, nicht vielleicht wohl thäten, sich die
möglichen Konsequenzen dieser einfachen Wahrheiten klar zu machen?

Man kann einwerfen, der Strom der deutschen Auswanderung braucht nicht
immer seinen Weg nach dem Westen zu nehmen, und er braucht, wenn es der
Westen sein muß, statt wie im Mittelalter das östliche Slaven- und Magy¬
arenland, nicht unbedingt in die amerikanische Union zu münden.

Wir antworten darauf: eine starke deutsche Auswanderung nach Polen und
den untern Donauländern setzt voraus, daß Rußland seine Natur völlig ge¬
ändert habe und statt auch nach Westen nur nach Osten und Süden vordringe.
Kleinasien ferner, ein für deutsche Ansiedelungen sehr wünschenswerthes Land,
wird unsern Colonisten erst offen stehen, wenn die Türken nicht mehr am Bos¬
porus wohnen. Algerien steht außer Frage; denn alle Versuche, hier Nieder¬
lassungen zu gründen, sind bis jetzt entweder ganz gescheitert oder auf so
kümmerliche Ergebnisse beschränkt geblieben, daß auch für die Zukunft wenig
von einer Besiedelung dieses Landstrichs durch Deutsche zu erwarten ist.
Australien ist zu fern, um die Masse anzuziehen, und nur die Entdeckung
der Goldlager lenkte in den letzten Jahren einen beträchtlichen Arm des euro¬
päischen Auswandererstroms dahin. Endlich sind nicht nur alle tropischen und
polaren Länder zu deutschen Niederlassungen ungeeignet, sondern auch viele der
neuerdings lebhaft empfohlenen Staaten Südamerikas, namentlich die Prairie¬
striche von Brasilien und den Laplata-Staaten. Die letzteren taugen nicht für
Deutsche, da sie einen höchst einförmigen Boden, ein zu Ausschreitungen ge¬
neigtes Klima und das größte Einerlei der Bodenerzeugnisse zeigen. Sie sind
ferner wasserarm, weil zu weit von den Gebirgen entfernt, sie haben keine
Bäche und kleinen Flüsse und besitzen nur wenige Stellen, wo durch Graben
von Brunnen einer zahlreichen ackerbautreibenden Bevölkerung die erforderliche
Menge von Wasser geschafft werden könnte. Die mächtigen Ströme dieser Leim-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/491>, abgerufen am 15.01.2025.