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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Umständen war eine Entscheidung geboten, eine thätige Parteinahme in dem
Kampfe, der unvermeidlich bevorstand. Es ergibt sich nun aus den diploma¬
tischen Korrespondenzen ganz klar, daß man in Berlin sich dessen wohl bewußt
war, daß aber das immer wieder sich geltend machende Bestreben, um jeden
Preis in dem allgemeinen Weltbrande die Neutralität zu behaupten, ein un¬
ablässiges Schwanken zur Folge hatte, sodaß das Ergreifen eines selbständigen
Entschlusses stets von den Ereignissen überholt wurde. Dazu kam, daß .von
den beiden Seiten, auf denen man sich um die preußische Alliance bewarb,
eine Taktik eingeschlagen wurde, die ganz darauf berechnet zu sein schien, Preu¬
ßen in das gegnerische Lager zu treiben, bis endlich in dem letzen Augenblick
des Grafen v. Haugwitz gewissenlose Schwäche Preußen zum willenlosen Werk¬
zeug und Opfer der napoleonischen Politik machte. Es haben die dama¬
ligen Schwankungen der preußischen Politik aus die Zeirgcnossen vielfach den
Eindruck undurchdringlichster Hinterhältigkeit und berechnender Schlauheit ge¬
macht: je genauer wir in das Detail der Verhandlungen eindringen können,
um so klarer sehen wir, daß alles Schwanken nur das Resultat der Schwäche
und Unentschlossenheit war, die seit der Staat zu Reichenbach mit seinen Tradi¬
tionen einmal gebrochen, sich in raschem Fortschreiten so weit gesteigert hatte,
daß selbst die dringendsten Antriebe zum Handeln nicht stark genug waren, um
im richtigen Augenblicke das Schattenbild einer bereits völlig unhaltbar gewor¬
denen Neutralität zu verscheuchen.

Den Hauptanlaß zur Bildung der Coalition von 1805 gaben bekanntlich
zunächst die Uebergriffe Napoleons in Italien, namentlich auch die Annahme
der italienischen Königskrone. Charakteristisch ist es nun gleich beim Beginn
der Verwickelung, mit welcher Hartnäckigkeit man in Berlin die Glaubwürdig¬
keit der diesen Punkt betreffenden nur allzu begründeten Gerüchte bezweifelt.
Nachdem endlich Napoleons Maßregeln in Italien vollzogen waren, findet man,
daß es gar nicht befremdend sein würde, wenn jetzt in Wien und Se. Peters¬
burg die Kriegsgedanken die Oberhand gewinnen würden, fügt aber gleich hinzu,
Preußens Neutralität werde dadurch nicht erschüttert. Freilich aber konnte man
sich nicht verhehlen, daß die Durchführung der Absicht, dem Lande während
eines neuen europäischen Krieges den Frieden zu erhalten, nicht allein von dem
eigenen Willen abhängig sein würde, und daß nur die Erhaltung des Welt¬
friedens Preußen von der Sorge, in den Strudel der Begebenheiten hingerissen
zu werden, befreien können. Demgemäß stellte sich die preußische Politik die
bestimmte Aufgabe, alle ihre Gewandtheit aufzubieten, um die immer höher
gehenden Wogen der kriegerischen Stimmung in Europa zu besänftigen und
die schon zum Schlage gerüsteten Rivalen vermittelnd und beruhigend auseinander
zu halten. Es wurde die reine Neutralität mit der Rolle des Friedensstifters
vertauscht. Diese Wendung konnte von großer Bedeutung für Preußens Seel-


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Umständen war eine Entscheidung geboten, eine thätige Parteinahme in dem
Kampfe, der unvermeidlich bevorstand. Es ergibt sich nun aus den diploma¬
tischen Korrespondenzen ganz klar, daß man in Berlin sich dessen wohl bewußt
war, daß aber das immer wieder sich geltend machende Bestreben, um jeden
Preis in dem allgemeinen Weltbrande die Neutralität zu behaupten, ein un¬
ablässiges Schwanken zur Folge hatte, sodaß das Ergreifen eines selbständigen
Entschlusses stets von den Ereignissen überholt wurde. Dazu kam, daß .von
den beiden Seiten, auf denen man sich um die preußische Alliance bewarb,
eine Taktik eingeschlagen wurde, die ganz darauf berechnet zu sein schien, Preu¬
ßen in das gegnerische Lager zu treiben, bis endlich in dem letzen Augenblick
des Grafen v. Haugwitz gewissenlose Schwäche Preußen zum willenlosen Werk¬
zeug und Opfer der napoleonischen Politik machte. Es haben die dama¬
ligen Schwankungen der preußischen Politik aus die Zeirgcnossen vielfach den
Eindruck undurchdringlichster Hinterhältigkeit und berechnender Schlauheit ge¬
macht: je genauer wir in das Detail der Verhandlungen eindringen können,
um so klarer sehen wir, daß alles Schwanken nur das Resultat der Schwäche
und Unentschlossenheit war, die seit der Staat zu Reichenbach mit seinen Tradi¬
tionen einmal gebrochen, sich in raschem Fortschreiten so weit gesteigert hatte,
daß selbst die dringendsten Antriebe zum Handeln nicht stark genug waren, um
im richtigen Augenblicke das Schattenbild einer bereits völlig unhaltbar gewor¬
denen Neutralität zu verscheuchen.

Den Hauptanlaß zur Bildung der Coalition von 1805 gaben bekanntlich
zunächst die Uebergriffe Napoleons in Italien, namentlich auch die Annahme
der italienischen Königskrone. Charakteristisch ist es nun gleich beim Beginn
der Verwickelung, mit welcher Hartnäckigkeit man in Berlin die Glaubwürdig¬
keit der diesen Punkt betreffenden nur allzu begründeten Gerüchte bezweifelt.
Nachdem endlich Napoleons Maßregeln in Italien vollzogen waren, findet man,
daß es gar nicht befremdend sein würde, wenn jetzt in Wien und Se. Peters¬
burg die Kriegsgedanken die Oberhand gewinnen würden, fügt aber gleich hinzu,
Preußens Neutralität werde dadurch nicht erschüttert. Freilich aber konnte man
sich nicht verhehlen, daß die Durchführung der Absicht, dem Lande während
eines neuen europäischen Krieges den Frieden zu erhalten, nicht allein von dem
eigenen Willen abhängig sein würde, und daß nur die Erhaltung des Welt¬
friedens Preußen von der Sorge, in den Strudel der Begebenheiten hingerissen
zu werden, befreien können. Demgemäß stellte sich die preußische Politik die
bestimmte Aufgabe, alle ihre Gewandtheit aufzubieten, um die immer höher
gehenden Wogen der kriegerischen Stimmung in Europa zu besänftigen und
die schon zum Schlage gerüsteten Rivalen vermittelnd und beruhigend auseinander
zu halten. Es wurde die reine Neutralität mit der Rolle des Friedensstifters
vertauscht. Diese Wendung konnte von großer Bedeutung für Preußens Seel-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/419>, abgerufen am 15.01.2025.