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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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der Weltlage mit den Forderungen des Augenblicks in Widerspruch stehen,
wo die Befriedigung der letzteren die Ehre und die Zukunft eines Staates be¬
droht, vermag nur eine geistige Kraft, welche die Verhältnisse ihrem mächtigen
Willen unterzuordnen weiß, die auch bedenkliche Schritte im Bewußtsein ihrer
Ueberlegenheit wagen darf, den Uebergang aus der Politik des Leidens zu der
Politik des Handelns zu finden.

Eine bei weitem strengere Beurtheilung verdient die von Preußen der
Bedrohung und schließlichen Besetzung Hannovers durch Frankreich (1803) gegen¬
über befolgte Politik. Einmal handelte es sich hier für Preußen direct um
eine Lebensfrage, die Aufrechterhaltung der norddeutschen Neutralität; sodann
aber ist es kein Zweifel, daß Preußen bei dieser Gelegenheit durch energische
Entschlossenheit seine politische Stellung wesentlich hätte verbessern können.
Wenn es, ohne Rücksicht auf den Zorn Vonapartes und auf die von anderer
Seite her zu erwartenden Mißdeutungen, Hannover auf die Bitte der dortigen
Negierung bei der ersten Bedrohung durch die Franzosen besetzt hätte, so läßt
sich mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß dies nicht zu einem Kriege mit
Frankreich geführt haben, daß es aber das Ansehen Preußens außerordentlich
erhöht und ihm die längst entbehrte Actionsfäbigkeit wiedergegeben haben würde.
Statt dessen Unterhandlungen in Petersburg, London und Paris, die sämmt¬
lich erfolglos blieben, weil jedermann wußte, daß, welches auch die Ergeb¬
nisse derselben sein mochten, Preußen unter allen Umständen seinen Wünschen
keinen Nachdruck durch die That zu geben entschlossen war! Die diplomatischen
Verhandlungen Preußens, um die drohende Besetzung, und nachdem sie ein¬
getreten war, ihre weiteren Folgen abzuwenden, die Sendung Lombards nach
Brüssel und seine haltungslose Hingebung an Bonaparte, machen einen wahr¬
haft peinlichen und schmerzlichen Eindruck. Ein näheres Eingehen auf diese
Verhältnisse, die nach den Acten des preußischen Staatsarchives ausführlich
dargestellt sind, müssen wir uns der Fülle des vorliegenden Stoffes wegen
versagen.

Die Krisis der europäischen Angelegenheiten, nicht blos Preußens, ge¬
langte auf ihren Höhepunkt in den diplomatischen Verhandlungen, die dem
Kriege von 1805 theils vorangehen, theils ihn begleiten. Die Situation Preu¬
ßens war höchst bedenklich, aber, trotz der bereits begangenen Fehler doch nicht
hoffnungslos, ja sie war in vielen Beziehungen günstiger als sie es zu irgend
einer Zeit seit dem baselcr Frieden gewesen war; zunächst deshalb, weil Preu¬
ßens Entschluß von entscheidenden Einfluß auf den Gang des Krieges werden
konnte, und sodann, weil das Gewicht der Gründe, welche einer Verbindung
mit Oestreich im Wege standen, wenn nicht gehoben, doch bedeutend vermin¬
dert war. Wie man aber auch über die Lage urtheilen mochte (und gewiß
waren zwei entgegengesetzte Auffassungen der Verhältnisse möglich), unter allen


der Weltlage mit den Forderungen des Augenblicks in Widerspruch stehen,
wo die Befriedigung der letzteren die Ehre und die Zukunft eines Staates be¬
droht, vermag nur eine geistige Kraft, welche die Verhältnisse ihrem mächtigen
Willen unterzuordnen weiß, die auch bedenkliche Schritte im Bewußtsein ihrer
Ueberlegenheit wagen darf, den Uebergang aus der Politik des Leidens zu der
Politik des Handelns zu finden.

Eine bei weitem strengere Beurtheilung verdient die von Preußen der
Bedrohung und schließlichen Besetzung Hannovers durch Frankreich (1803) gegen¬
über befolgte Politik. Einmal handelte es sich hier für Preußen direct um
eine Lebensfrage, die Aufrechterhaltung der norddeutschen Neutralität; sodann
aber ist es kein Zweifel, daß Preußen bei dieser Gelegenheit durch energische
Entschlossenheit seine politische Stellung wesentlich hätte verbessern können.
Wenn es, ohne Rücksicht auf den Zorn Vonapartes und auf die von anderer
Seite her zu erwartenden Mißdeutungen, Hannover auf die Bitte der dortigen
Negierung bei der ersten Bedrohung durch die Franzosen besetzt hätte, so läßt
sich mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß dies nicht zu einem Kriege mit
Frankreich geführt haben, daß es aber das Ansehen Preußens außerordentlich
erhöht und ihm die längst entbehrte Actionsfäbigkeit wiedergegeben haben würde.
Statt dessen Unterhandlungen in Petersburg, London und Paris, die sämmt¬
lich erfolglos blieben, weil jedermann wußte, daß, welches auch die Ergeb¬
nisse derselben sein mochten, Preußen unter allen Umständen seinen Wünschen
keinen Nachdruck durch die That zu geben entschlossen war! Die diplomatischen
Verhandlungen Preußens, um die drohende Besetzung, und nachdem sie ein¬
getreten war, ihre weiteren Folgen abzuwenden, die Sendung Lombards nach
Brüssel und seine haltungslose Hingebung an Bonaparte, machen einen wahr¬
haft peinlichen und schmerzlichen Eindruck. Ein näheres Eingehen auf diese
Verhältnisse, die nach den Acten des preußischen Staatsarchives ausführlich
dargestellt sind, müssen wir uns der Fülle des vorliegenden Stoffes wegen
versagen.

Die Krisis der europäischen Angelegenheiten, nicht blos Preußens, ge¬
langte auf ihren Höhepunkt in den diplomatischen Verhandlungen, die dem
Kriege von 1805 theils vorangehen, theils ihn begleiten. Die Situation Preu¬
ßens war höchst bedenklich, aber, trotz der bereits begangenen Fehler doch nicht
hoffnungslos, ja sie war in vielen Beziehungen günstiger als sie es zu irgend
einer Zeit seit dem baselcr Frieden gewesen war; zunächst deshalb, weil Preu¬
ßens Entschluß von entscheidenden Einfluß auf den Gang des Krieges werden
konnte, und sodann, weil das Gewicht der Gründe, welche einer Verbindung
mit Oestreich im Wege standen, wenn nicht gehoben, doch bedeutend vermin¬
dert war. Wie man aber auch über die Lage urtheilen mochte (und gewiß
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[0418] der Weltlage mit den Forderungen des Augenblicks in Widerspruch stehen, wo die Befriedigung der letzteren die Ehre und die Zukunft eines Staates be¬ droht, vermag nur eine geistige Kraft, welche die Verhältnisse ihrem mächtigen Willen unterzuordnen weiß, die auch bedenkliche Schritte im Bewußtsein ihrer Ueberlegenheit wagen darf, den Uebergang aus der Politik des Leidens zu der Politik des Handelns zu finden. Eine bei weitem strengere Beurtheilung verdient die von Preußen der Bedrohung und schließlichen Besetzung Hannovers durch Frankreich (1803) gegen¬ über befolgte Politik. Einmal handelte es sich hier für Preußen direct um eine Lebensfrage, die Aufrechterhaltung der norddeutschen Neutralität; sodann aber ist es kein Zweifel, daß Preußen bei dieser Gelegenheit durch energische Entschlossenheit seine politische Stellung wesentlich hätte verbessern können. Wenn es, ohne Rücksicht auf den Zorn Vonapartes und auf die von anderer Seite her zu erwartenden Mißdeutungen, Hannover auf die Bitte der dortigen Negierung bei der ersten Bedrohung durch die Franzosen besetzt hätte, so läßt sich mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß dies nicht zu einem Kriege mit Frankreich geführt haben, daß es aber das Ansehen Preußens außerordentlich erhöht und ihm die längst entbehrte Actionsfäbigkeit wiedergegeben haben würde. Statt dessen Unterhandlungen in Petersburg, London und Paris, die sämmt¬ lich erfolglos blieben, weil jedermann wußte, daß, welches auch die Ergeb¬ nisse derselben sein mochten, Preußen unter allen Umständen seinen Wünschen keinen Nachdruck durch die That zu geben entschlossen war! Die diplomatischen Verhandlungen Preußens, um die drohende Besetzung, und nachdem sie ein¬ getreten war, ihre weiteren Folgen abzuwenden, die Sendung Lombards nach Brüssel und seine haltungslose Hingebung an Bonaparte, machen einen wahr¬ haft peinlichen und schmerzlichen Eindruck. Ein näheres Eingehen auf diese Verhältnisse, die nach den Acten des preußischen Staatsarchives ausführlich dargestellt sind, müssen wir uns der Fülle des vorliegenden Stoffes wegen versagen. Die Krisis der europäischen Angelegenheiten, nicht blos Preußens, ge¬ langte auf ihren Höhepunkt in den diplomatischen Verhandlungen, die dem Kriege von 1805 theils vorangehen, theils ihn begleiten. Die Situation Preu¬ ßens war höchst bedenklich, aber, trotz der bereits begangenen Fehler doch nicht hoffnungslos, ja sie war in vielen Beziehungen günstiger als sie es zu irgend einer Zeit seit dem baselcr Frieden gewesen war; zunächst deshalb, weil Preu¬ ßens Entschluß von entscheidenden Einfluß auf den Gang des Krieges werden konnte, und sodann, weil das Gewicht der Gründe, welche einer Verbindung mit Oestreich im Wege standen, wenn nicht gehoben, doch bedeutend vermin¬ dert war. Wie man aber auch über die Lage urtheilen mochte (und gewiß waren zwei entgegengesetzte Auffassungen der Verhältnisse möglich), unter allen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/418>, abgerufen am 15.01.2025.