Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

beide Bewerber nur darauf ausgingen, es zu rauschen und zu ihren Zwecken
zu mißbrauchen. Dazu kam noch, daß, während die allgemeine Weltlage
Preußen entschieden auf eine Theilnahme an der Coalition gegen Frankreich
hinwies, es seine nächsten Zwecke unstreitig am leichtesten durch eine Verbin¬
dung mit diesem Staat erreichen zu können hoffen durfte, daß dagegen gerade
die speciellen Interessen der preußischen Politik in Oestreich ihren schroffsten und
unnachgiebigsten Gegner fanden, einen Gegner, von dem es gewiß war, daß
er den französischen Lockungen zugänglich war, und daß er durch keine Ge¬
wissensbedenken abgehalten wurde, sich mit Frankreich zu verbinden, wenn die
Freundschaft mit diesem ihm größeren Vortheil versprach, als der Krieg gegen
dasselbe. Wir sehen daher in dem vorliegenden Falle in der Politik der Neu¬
tralität weniger eine Schwäche, als vielmehr ein trauriges Gebot der Noth¬
wendigkeit. So wenig wir in der Geschichte einer fatalistischen Anschauung-
huldigen, und so wenig wir namentlich geneigt sind, die Schuld der Indivi¬
duen dem Schicksal aufzubürden, so läßt sich doch andrerseits nicht in Abrede
stellen, daß im Staatsleben Momente vorkommen, wo eine unglückliche Ver¬
wickelung die Möglichkeit eines rettenden Entschlusses so erschwert, daß nur
die gewaltigste staatsmännische Kraft die Schranken -der Nothwendigkeit zu durch¬
brechen vermag. Auch hier liegt eine Schuld zu Grunde; aber es ist zum
größeren Theile die Schuld der Vergangenheit, die auf Jahre hin, alle Kräfte
lösend und bindend, fortwirkt. Für Preußen begann, wie nicht oft genug
hervorgehoben werden kann, der Rückgang mit dem Tage von Reichenbach.
Daß man damals den Augenblick hatte entschlüpfen lassen, daß man mit Oest¬
reich ein ungleiches Bündniß geschlossen hatte, ohne daß die Voraussetzungen,
welche eine aufrichtige Freundschaft ermöglichten, vorhanden waren, das strafte
sich durch eine Reihe von Verlegenheiten, die von Jahr zu Jahr sich steigernd,
Preußens Kräfte mehr und mehr einschnürten, seine Bewegung hemmten
und es in dem Grade der Fähigkeit zu entschlossenem Handeln beraubten, daß"
es die Gelegenheiten zu erfolgreichem Eingreifen, die sich ihm in den Jahren 1804
und 1805 boten, unbenutzt vorübergehen ließ. Es bedürfte einer fast vernich¬
tenden Krisis, um den tief eingewurzelten Krankheitsstoff zu überwältigen und
in der Schule des Leidens die Kräfte so weit zu stärken, daß sie den Bann,
der Preußen umgab, durchbrechen konnten, freilich ohne daß es gelang, in
gleicher Weise, wie der Nation den altpreußischen Opfermuth, so auch der
Diplomatie die unvergleichliche Kraft und Sicherheit des friedericianischen Zeit¬
alters einzuflößen. Kranken wir denn nicht bis auf den heutigen Tag noch an
den Folgen des Vertrags von Reichenbach? -- Was dagegen speciell das Verhal¬
ten der preußischen Staatskunst zur Zeit des rastatter Congresses betrifft, so
tragen wir Bedenken, ihr aus ihrer damaligen Unentschlossenheit, aus ihrer
Neutralitätssucht einen Vorwurf zu machen. Wo die allgemeinen Forderungen


Grenzboten IV. 1863. 52

beide Bewerber nur darauf ausgingen, es zu rauschen und zu ihren Zwecken
zu mißbrauchen. Dazu kam noch, daß, während die allgemeine Weltlage
Preußen entschieden auf eine Theilnahme an der Coalition gegen Frankreich
hinwies, es seine nächsten Zwecke unstreitig am leichtesten durch eine Verbin¬
dung mit diesem Staat erreichen zu können hoffen durfte, daß dagegen gerade
die speciellen Interessen der preußischen Politik in Oestreich ihren schroffsten und
unnachgiebigsten Gegner fanden, einen Gegner, von dem es gewiß war, daß
er den französischen Lockungen zugänglich war, und daß er durch keine Ge¬
wissensbedenken abgehalten wurde, sich mit Frankreich zu verbinden, wenn die
Freundschaft mit diesem ihm größeren Vortheil versprach, als der Krieg gegen
dasselbe. Wir sehen daher in dem vorliegenden Falle in der Politik der Neu¬
tralität weniger eine Schwäche, als vielmehr ein trauriges Gebot der Noth¬
wendigkeit. So wenig wir in der Geschichte einer fatalistischen Anschauung-
huldigen, und so wenig wir namentlich geneigt sind, die Schuld der Indivi¬
duen dem Schicksal aufzubürden, so läßt sich doch andrerseits nicht in Abrede
stellen, daß im Staatsleben Momente vorkommen, wo eine unglückliche Ver¬
wickelung die Möglichkeit eines rettenden Entschlusses so erschwert, daß nur
die gewaltigste staatsmännische Kraft die Schranken -der Nothwendigkeit zu durch¬
brechen vermag. Auch hier liegt eine Schuld zu Grunde; aber es ist zum
größeren Theile die Schuld der Vergangenheit, die auf Jahre hin, alle Kräfte
lösend und bindend, fortwirkt. Für Preußen begann, wie nicht oft genug
hervorgehoben werden kann, der Rückgang mit dem Tage von Reichenbach.
Daß man damals den Augenblick hatte entschlüpfen lassen, daß man mit Oest¬
reich ein ungleiches Bündniß geschlossen hatte, ohne daß die Voraussetzungen,
welche eine aufrichtige Freundschaft ermöglichten, vorhanden waren, das strafte
sich durch eine Reihe von Verlegenheiten, die von Jahr zu Jahr sich steigernd,
Preußens Kräfte mehr und mehr einschnürten, seine Bewegung hemmten
und es in dem Grade der Fähigkeit zu entschlossenem Handeln beraubten, daß"
es die Gelegenheiten zu erfolgreichem Eingreifen, die sich ihm in den Jahren 1804
und 1805 boten, unbenutzt vorübergehen ließ. Es bedürfte einer fast vernich¬
tenden Krisis, um den tief eingewurzelten Krankheitsstoff zu überwältigen und
in der Schule des Leidens die Kräfte so weit zu stärken, daß sie den Bann,
der Preußen umgab, durchbrechen konnten, freilich ohne daß es gelang, in
gleicher Weise, wie der Nation den altpreußischen Opfermuth, so auch der
Diplomatie die unvergleichliche Kraft und Sicherheit des friedericianischen Zeit¬
alters einzuflößen. Kranken wir denn nicht bis auf den heutigen Tag noch an
den Folgen des Vertrags von Reichenbach? — Was dagegen speciell das Verhal¬
ten der preußischen Staatskunst zur Zeit des rastatter Congresses betrifft, so
tragen wir Bedenken, ihr aus ihrer damaligen Unentschlossenheit, aus ihrer
Neutralitätssucht einen Vorwurf zu machen. Wo die allgemeinen Forderungen


Grenzboten IV. 1863. 52
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0417" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116345"/>
          <p xml:id="ID_1389" prev="#ID_1388" next="#ID_1390"> beide Bewerber nur darauf ausgingen, es zu rauschen und zu ihren Zwecken<lb/>
zu mißbrauchen. Dazu kam noch, daß, während die allgemeine Weltlage<lb/>
Preußen entschieden auf eine Theilnahme an der Coalition gegen Frankreich<lb/>
hinwies, es seine nächsten Zwecke unstreitig am leichtesten durch eine Verbin¬<lb/>
dung mit diesem Staat erreichen zu können hoffen durfte, daß dagegen gerade<lb/>
die speciellen Interessen der preußischen Politik in Oestreich ihren schroffsten und<lb/>
unnachgiebigsten Gegner fanden, einen Gegner, von dem es gewiß war, daß<lb/>
er den französischen Lockungen zugänglich war, und daß er durch keine Ge¬<lb/>
wissensbedenken abgehalten wurde, sich mit Frankreich zu verbinden, wenn die<lb/>
Freundschaft mit diesem ihm größeren Vortheil versprach, als der Krieg gegen<lb/>
dasselbe. Wir sehen daher in dem vorliegenden Falle in der Politik der Neu¬<lb/>
tralität weniger eine Schwäche, als vielmehr ein trauriges Gebot der Noth¬<lb/>
wendigkeit. So wenig wir in der Geschichte einer fatalistischen Anschauung-<lb/>
huldigen, und so wenig wir namentlich geneigt sind, die Schuld der Indivi¬<lb/>
duen dem Schicksal aufzubürden, so läßt sich doch andrerseits nicht in Abrede<lb/>
stellen, daß im Staatsleben Momente vorkommen, wo eine unglückliche Ver¬<lb/>
wickelung die Möglichkeit eines rettenden Entschlusses so erschwert, daß nur<lb/>
die gewaltigste staatsmännische Kraft die Schranken -der Nothwendigkeit zu durch¬<lb/>
brechen vermag. Auch hier liegt eine Schuld zu Grunde; aber es ist zum<lb/>
größeren Theile die Schuld der Vergangenheit, die auf Jahre hin, alle Kräfte<lb/>
lösend und bindend, fortwirkt. Für Preußen begann, wie nicht oft genug<lb/>
hervorgehoben werden kann, der Rückgang mit dem Tage von Reichenbach.<lb/>
Daß man damals den Augenblick hatte entschlüpfen lassen, daß man mit Oest¬<lb/>
reich ein ungleiches Bündniß geschlossen hatte, ohne daß die Voraussetzungen,<lb/>
welche eine aufrichtige Freundschaft ermöglichten, vorhanden waren, das strafte<lb/>
sich durch eine Reihe von Verlegenheiten, die von Jahr zu Jahr sich steigernd,<lb/>
Preußens Kräfte mehr und mehr einschnürten, seine Bewegung hemmten<lb/>
und es in dem Grade der Fähigkeit zu entschlossenem Handeln beraubten, daß"<lb/>
es die Gelegenheiten zu erfolgreichem Eingreifen, die sich ihm in den Jahren 1804<lb/>
und 1805 boten, unbenutzt vorübergehen ließ. Es bedürfte einer fast vernich¬<lb/>
tenden Krisis, um den tief eingewurzelten Krankheitsstoff zu überwältigen und<lb/>
in der Schule des Leidens die Kräfte so weit zu stärken, daß sie den Bann,<lb/>
der Preußen umgab, durchbrechen konnten, freilich ohne daß es gelang, in<lb/>
gleicher Weise, wie der Nation den altpreußischen Opfermuth, so auch der<lb/>
Diplomatie die unvergleichliche Kraft und Sicherheit des friedericianischen Zeit¬<lb/>
alters einzuflößen. Kranken wir denn nicht bis auf den heutigen Tag noch an<lb/>
den Folgen des Vertrags von Reichenbach? &#x2014; Was dagegen speciell das Verhal¬<lb/>
ten der preußischen Staatskunst zur Zeit des rastatter Congresses betrifft, so<lb/>
tragen wir Bedenken, ihr aus ihrer damaligen Unentschlossenheit, aus ihrer<lb/>
Neutralitätssucht einen Vorwurf zu machen. Wo die allgemeinen Forderungen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1863. 52</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0417] beide Bewerber nur darauf ausgingen, es zu rauschen und zu ihren Zwecken zu mißbrauchen. Dazu kam noch, daß, während die allgemeine Weltlage Preußen entschieden auf eine Theilnahme an der Coalition gegen Frankreich hinwies, es seine nächsten Zwecke unstreitig am leichtesten durch eine Verbin¬ dung mit diesem Staat erreichen zu können hoffen durfte, daß dagegen gerade die speciellen Interessen der preußischen Politik in Oestreich ihren schroffsten und unnachgiebigsten Gegner fanden, einen Gegner, von dem es gewiß war, daß er den französischen Lockungen zugänglich war, und daß er durch keine Ge¬ wissensbedenken abgehalten wurde, sich mit Frankreich zu verbinden, wenn die Freundschaft mit diesem ihm größeren Vortheil versprach, als der Krieg gegen dasselbe. Wir sehen daher in dem vorliegenden Falle in der Politik der Neu¬ tralität weniger eine Schwäche, als vielmehr ein trauriges Gebot der Noth¬ wendigkeit. So wenig wir in der Geschichte einer fatalistischen Anschauung- huldigen, und so wenig wir namentlich geneigt sind, die Schuld der Indivi¬ duen dem Schicksal aufzubürden, so läßt sich doch andrerseits nicht in Abrede stellen, daß im Staatsleben Momente vorkommen, wo eine unglückliche Ver¬ wickelung die Möglichkeit eines rettenden Entschlusses so erschwert, daß nur die gewaltigste staatsmännische Kraft die Schranken -der Nothwendigkeit zu durch¬ brechen vermag. Auch hier liegt eine Schuld zu Grunde; aber es ist zum größeren Theile die Schuld der Vergangenheit, die auf Jahre hin, alle Kräfte lösend und bindend, fortwirkt. Für Preußen begann, wie nicht oft genug hervorgehoben werden kann, der Rückgang mit dem Tage von Reichenbach. Daß man damals den Augenblick hatte entschlüpfen lassen, daß man mit Oest¬ reich ein ungleiches Bündniß geschlossen hatte, ohne daß die Voraussetzungen, welche eine aufrichtige Freundschaft ermöglichten, vorhanden waren, das strafte sich durch eine Reihe von Verlegenheiten, die von Jahr zu Jahr sich steigernd, Preußens Kräfte mehr und mehr einschnürten, seine Bewegung hemmten und es in dem Grade der Fähigkeit zu entschlossenem Handeln beraubten, daß" es die Gelegenheiten zu erfolgreichem Eingreifen, die sich ihm in den Jahren 1804 und 1805 boten, unbenutzt vorübergehen ließ. Es bedürfte einer fast vernich¬ tenden Krisis, um den tief eingewurzelten Krankheitsstoff zu überwältigen und in der Schule des Leidens die Kräfte so weit zu stärken, daß sie den Bann, der Preußen umgab, durchbrechen konnten, freilich ohne daß es gelang, in gleicher Weise, wie der Nation den altpreußischen Opfermuth, so auch der Diplomatie die unvergleichliche Kraft und Sicherheit des friedericianischen Zeit¬ alters einzuflößen. Kranken wir denn nicht bis auf den heutigen Tag noch an den Folgen des Vertrags von Reichenbach? — Was dagegen speciell das Verhal¬ ten der preußischen Staatskunst zur Zeit des rastatter Congresses betrifft, so tragen wir Bedenken, ihr aus ihrer damaligen Unentschlossenheit, aus ihrer Neutralitätssucht einen Vorwurf zu machen. Wo die allgemeinen Forderungen Grenzboten IV. 1863. 52

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/417
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/417>, abgerufen am 15.01.2025.