Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.Wahrend auf dem Gebiete der Grammatik und der Rechtsalterthümer sein poe¬ Ungemein fruchtbar ist die Anregung Grimms gerade auf diesem Gebiete So stand Jacob Grimm, nachdem den drei ersten Bänden seiner Gramma¬ Wahrend auf dem Gebiete der Grammatik und der Rechtsalterthümer sein poe¬ Ungemein fruchtbar ist die Anregung Grimms gerade auf diesem Gebiete So stand Jacob Grimm, nachdem den drei ersten Bänden seiner Gramma¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0303" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116231"/> <p xml:id="ID_1028" prev="#ID_1027"> Wahrend auf dem Gebiete der Grammatik und der Rechtsalterthümer sein poe¬<lb/> tischer Tastsinn doch immer nur nebenbei zur Geltung kommen konnte und zu¬<lb/> weilen selbst Gefahr lief, sich dahin zu verirren, wo er eigentlich nicht hin¬<lb/> gehörte, so hatte er es in der Mythologie durchaus mit der freien Schöpfung<lb/> des poetischen Geistes zu thun. Denn in den Gestalten der Religion und der<lb/> Mythologie schafft sich der Mensch seinen Gott oder seine Götter nach seinem<lb/> Bilde, schafft sich seinen Götterhimmel und seine Göttergeschichte nach seinen<lb/> Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen. Hier kann nur das Talent poe¬<lb/> tischer Nachempfindung und Anempsindung zu Resultaten gelangen, und somit<lb/> war hier Grimm recht eigentlich auf seinem Gebiete. So darf es uns denn<lb/> nach dem bisher Erörterten nicht Wunder nehmen, wenn die deutsche Mytholo¬<lb/> gie fertig wie die Minerva aus Zeus Haupte hervorsprang und alle Zweifel<lb/> einfach durch ihre Existenz niederschlug. Das Werk ist 1844 in zweiter Aus¬<lb/> lage erschienen, wesentlich umgearbeitet und vermehrt, leider ohne den Anhang<lb/> der ersten Auslage, die daher noch immer nicht entbehrt werden kann; die Aus¬<lb/> gabe von 1834 ist nur ein genauer Wiederabdruck der zweiten, da die Arbeit<lb/> am Wörterbuche eine neue Bearbeitung unmöglich machte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1029"> Ungemein fruchtbar ist die Anregung Grimms gerade auf diesem Gebiete<lb/> geworden, weil in keinem andern seiner Werke der Zauber der Poesie Gegen¬<lb/> stand wie Forschung so ganz durchdringt; aber auch am unübertroffensten ist<lb/> Jacob Grimm gerade auf diesem geblieben, wo nur eine feine Grenze geniale<lb/> Forschung von methodeloser Phantasterei trennt. Leider hat die letztere sich<lb/> hier seitdem nicht wenig breit gemacht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1030" next="#ID_1031"> So stand Jacob Grimm, nachdem den drei ersten Bänden seiner Gramma¬<lb/> tik im Jahre 1837 noch der vierte gefolgt war, auf der Höhe seiner wissen¬<lb/> schaftlichen Verdienste, als er im Herbste desselben Jahres aus der Stille seines<lb/> gelehrten Wirkens auf die Bühne des öffentlichen Lebens gerissen und genöthigt<lb/> ward, auch von dem Adel und der Selbständigkeit seines Charakters Zeug¬<lb/> niß abzulegen. „Allgemein bekannt ist (mit diesen Worten folgen wir der<lb/> Vorrede zum deutschen Wörterbuche), daß im Frühjahr 1837 König Ernst<lb/> August von Hannover die durch seinen Vorgänger gegebene, im- Lande zu<lb/> Recht beständige und beschworene Verfassung eigenmächtig umstürzte, und daß<lb/> mit wenigen Anderen, die ihren Eid nicht wollten fahren lassen (denn wozu<lb/> sind Eide, wenn sie unwahr sein und nicht gehalten werden sollen?) ich und<lb/> mein Bruder unserer Aemter entsetzt wurden." Jacob ward überdies mit<lb/> Dahlmann und Gervinus des Landes verwiesen (am 11. December). Er mußte<lb/> sich von seinem Bruder und dessen Familie trennen und lebte mehre Jahre in<lb/> stiller Zurückgezogenheit zu Kassel. Es ist kaum glaublich und zeigt, daß wir<lb/> doch gegenwärtig in der politischen Moral nicht unwesentliche Fortschritte ge¬<lb/> macht haben und in einer gesunderen Zeit leben, daß Jacob Grimm in einer</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0303]
Wahrend auf dem Gebiete der Grammatik und der Rechtsalterthümer sein poe¬
tischer Tastsinn doch immer nur nebenbei zur Geltung kommen konnte und zu¬
weilen selbst Gefahr lief, sich dahin zu verirren, wo er eigentlich nicht hin¬
gehörte, so hatte er es in der Mythologie durchaus mit der freien Schöpfung
des poetischen Geistes zu thun. Denn in den Gestalten der Religion und der
Mythologie schafft sich der Mensch seinen Gott oder seine Götter nach seinem
Bilde, schafft sich seinen Götterhimmel und seine Göttergeschichte nach seinen
Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen. Hier kann nur das Talent poe¬
tischer Nachempfindung und Anempsindung zu Resultaten gelangen, und somit
war hier Grimm recht eigentlich auf seinem Gebiete. So darf es uns denn
nach dem bisher Erörterten nicht Wunder nehmen, wenn die deutsche Mytholo¬
gie fertig wie die Minerva aus Zeus Haupte hervorsprang und alle Zweifel
einfach durch ihre Existenz niederschlug. Das Werk ist 1844 in zweiter Aus¬
lage erschienen, wesentlich umgearbeitet und vermehrt, leider ohne den Anhang
der ersten Auslage, die daher noch immer nicht entbehrt werden kann; die Aus¬
gabe von 1834 ist nur ein genauer Wiederabdruck der zweiten, da die Arbeit
am Wörterbuche eine neue Bearbeitung unmöglich machte.
Ungemein fruchtbar ist die Anregung Grimms gerade auf diesem Gebiete
geworden, weil in keinem andern seiner Werke der Zauber der Poesie Gegen¬
stand wie Forschung so ganz durchdringt; aber auch am unübertroffensten ist
Jacob Grimm gerade auf diesem geblieben, wo nur eine feine Grenze geniale
Forschung von methodeloser Phantasterei trennt. Leider hat die letztere sich
hier seitdem nicht wenig breit gemacht.
So stand Jacob Grimm, nachdem den drei ersten Bänden seiner Gramma¬
tik im Jahre 1837 noch der vierte gefolgt war, auf der Höhe seiner wissen¬
schaftlichen Verdienste, als er im Herbste desselben Jahres aus der Stille seines
gelehrten Wirkens auf die Bühne des öffentlichen Lebens gerissen und genöthigt
ward, auch von dem Adel und der Selbständigkeit seines Charakters Zeug¬
niß abzulegen. „Allgemein bekannt ist (mit diesen Worten folgen wir der
Vorrede zum deutschen Wörterbuche), daß im Frühjahr 1837 König Ernst
August von Hannover die durch seinen Vorgänger gegebene, im- Lande zu
Recht beständige und beschworene Verfassung eigenmächtig umstürzte, und daß
mit wenigen Anderen, die ihren Eid nicht wollten fahren lassen (denn wozu
sind Eide, wenn sie unwahr sein und nicht gehalten werden sollen?) ich und
mein Bruder unserer Aemter entsetzt wurden." Jacob ward überdies mit
Dahlmann und Gervinus des Landes verwiesen (am 11. December). Er mußte
sich von seinem Bruder und dessen Familie trennen und lebte mehre Jahre in
stiller Zurückgezogenheit zu Kassel. Es ist kaum glaublich und zeigt, daß wir
doch gegenwärtig in der politischen Moral nicht unwesentliche Fortschritte ge¬
macht haben und in einer gesunderen Zeit leben, daß Jacob Grimm in einer
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