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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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Frage von so einfacher Sachlage, gegenüber einem brutalen und schamlosen
Despotismus, sich zu einer Rechtfertigungsschrift genöthigt sah: "Es verlauten
auch widerwärtige Stimmen, vornehme, die mir Klugheit, hoffärtige, die mir
gesunden Menschenverstand absprechen, selbst höhnende, die im Voraus ent¬
schlossen sind, mir gemeine und unwürdige Beweggründe unterzulegen." Diese
Schrift "Jacob Grimm über seine Entlassung", Basel 1838, gewährt
einen offenen Blick in den Gsng der Ereignisse, in seine Motive und seine
Handlungsweise, sie ist ein schönes Denkmal seines Muthes und seiner Ehren¬
haftigkeit und ein verdientes Denkmal der Schande für manchen Andern. Der
Absolutismus in Deutschland hat schwerlich durch ein anderes Ereigniß einen
tieferen Stoß erhalten als durch dieses. Für die Wissenschaft erwuchs aus der
unfreiwilligen Muße der beiden Brüder eine große und bedeutsame Frucht, der
Plan zu dem großen deutschen Wörterbuche, dessen erste Anregung von den
Herren S. Hirzel und K. Reimer ausging, in deren Verlage später dieses Werk
erschien. Einstweilen wurden nur die Vorbereitungen angeordnet, dagegen wur¬
den während der Zeit des tasseler Aufenthaltes die "lateinischen Gedichte des
zehnten und elften Jahrhunderts" (darunter der Waltharius und der Ruvdlieb)
mit Schmeller gemeinsam (1838), und das angelsächsische Werk von Andreas
und Elene (1840) durch Jacob allein herausgegeben.

Im Jahre 1841 wurden beide Brüder als Mitglieder der tgi. preußischen
Akademie der Wissenschaften nach Berlin berufen. Den Bemühungen Bettinas
und des Präsidenten v. Meusebach wird diese günstige Wendung ihres Ge¬
schickes wohl hauptsächlich verdankt. Aus einer fast gedrückten Lage waren nun
beide Brüder plötzlich in die ehrenvollste Stellung erhoben, die einem deutschen
Gelehrten gewährt werden kann, sie hatten volle Muße zur Verfolgung ihrer
Studien und lebten, aller'Sorgen überhoben, in den angenehmsten Verhältnissen.
Seit ihrer Uebersiedelung nach Berlin folgten einander eine lange Reihe vor¬
züglicher akademischer Abhandlungen, auf welche die Akademie allen Grund hat stolz
zu sein. Nur selten und auf kurze Zeit ward diese Thätigkeit unterbrochen
durch die dringenden Anforderungen, welche die Herausgabe der größern Arbeiten
an Jacob stellte. Besonders umfänglich sind die Abhandlungen über die "Ge¬
dichte des Mittelalters auf Kaiser Friedrich Barbarossa" und "über den Ur¬
sprung der Sprache". Minder bedeutend war, wie auch bereits in Göttingen,
seine Wirksamkeit an der Universität. Für das Katheder besaß Jacob zu viel Un¬
ruhe des Geistes, zu wenig pädagogische Methode. In dieser Beziehung über¬
traf ihn Lachmann weitaus, und daher die merkwürdige Erscheinung, daß, obwohl
Jacob Grimm unbestritten als der Schöpfer der germanistischen Studien angesehen
wird, doch unter den gegenwärtigen Trägern dieser Wissenschaft sich kaum ein
Einziger befindet, der sich einen persönlichen Schüler Grimms nennen könnte,
während weitaus die Mehrzahl aus dankbaren Schülern Landmanns besteht.


Frage von so einfacher Sachlage, gegenüber einem brutalen und schamlosen
Despotismus, sich zu einer Rechtfertigungsschrift genöthigt sah: „Es verlauten
auch widerwärtige Stimmen, vornehme, die mir Klugheit, hoffärtige, die mir
gesunden Menschenverstand absprechen, selbst höhnende, die im Voraus ent¬
schlossen sind, mir gemeine und unwürdige Beweggründe unterzulegen." Diese
Schrift „Jacob Grimm über seine Entlassung", Basel 1838, gewährt
einen offenen Blick in den Gsng der Ereignisse, in seine Motive und seine
Handlungsweise, sie ist ein schönes Denkmal seines Muthes und seiner Ehren¬
haftigkeit und ein verdientes Denkmal der Schande für manchen Andern. Der
Absolutismus in Deutschland hat schwerlich durch ein anderes Ereigniß einen
tieferen Stoß erhalten als durch dieses. Für die Wissenschaft erwuchs aus der
unfreiwilligen Muße der beiden Brüder eine große und bedeutsame Frucht, der
Plan zu dem großen deutschen Wörterbuche, dessen erste Anregung von den
Herren S. Hirzel und K. Reimer ausging, in deren Verlage später dieses Werk
erschien. Einstweilen wurden nur die Vorbereitungen angeordnet, dagegen wur¬
den während der Zeit des tasseler Aufenthaltes die „lateinischen Gedichte des
zehnten und elften Jahrhunderts" (darunter der Waltharius und der Ruvdlieb)
mit Schmeller gemeinsam (1838), und das angelsächsische Werk von Andreas
und Elene (1840) durch Jacob allein herausgegeben.

Im Jahre 1841 wurden beide Brüder als Mitglieder der tgi. preußischen
Akademie der Wissenschaften nach Berlin berufen. Den Bemühungen Bettinas
und des Präsidenten v. Meusebach wird diese günstige Wendung ihres Ge¬
schickes wohl hauptsächlich verdankt. Aus einer fast gedrückten Lage waren nun
beide Brüder plötzlich in die ehrenvollste Stellung erhoben, die einem deutschen
Gelehrten gewährt werden kann, sie hatten volle Muße zur Verfolgung ihrer
Studien und lebten, aller'Sorgen überhoben, in den angenehmsten Verhältnissen.
Seit ihrer Uebersiedelung nach Berlin folgten einander eine lange Reihe vor¬
züglicher akademischer Abhandlungen, auf welche die Akademie allen Grund hat stolz
zu sein. Nur selten und auf kurze Zeit ward diese Thätigkeit unterbrochen
durch die dringenden Anforderungen, welche die Herausgabe der größern Arbeiten
an Jacob stellte. Besonders umfänglich sind die Abhandlungen über die „Ge¬
dichte des Mittelalters auf Kaiser Friedrich Barbarossa" und „über den Ur¬
sprung der Sprache". Minder bedeutend war, wie auch bereits in Göttingen,
seine Wirksamkeit an der Universität. Für das Katheder besaß Jacob zu viel Un¬
ruhe des Geistes, zu wenig pädagogische Methode. In dieser Beziehung über¬
traf ihn Lachmann weitaus, und daher die merkwürdige Erscheinung, daß, obwohl
Jacob Grimm unbestritten als der Schöpfer der germanistischen Studien angesehen
wird, doch unter den gegenwärtigen Trägern dieser Wissenschaft sich kaum ein
Einziger befindet, der sich einen persönlichen Schüler Grimms nennen könnte,
während weitaus die Mehrzahl aus dankbaren Schülern Landmanns besteht.


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[0304] Frage von so einfacher Sachlage, gegenüber einem brutalen und schamlosen Despotismus, sich zu einer Rechtfertigungsschrift genöthigt sah: „Es verlauten auch widerwärtige Stimmen, vornehme, die mir Klugheit, hoffärtige, die mir gesunden Menschenverstand absprechen, selbst höhnende, die im Voraus ent¬ schlossen sind, mir gemeine und unwürdige Beweggründe unterzulegen." Diese Schrift „Jacob Grimm über seine Entlassung", Basel 1838, gewährt einen offenen Blick in den Gsng der Ereignisse, in seine Motive und seine Handlungsweise, sie ist ein schönes Denkmal seines Muthes und seiner Ehren¬ haftigkeit und ein verdientes Denkmal der Schande für manchen Andern. Der Absolutismus in Deutschland hat schwerlich durch ein anderes Ereigniß einen tieferen Stoß erhalten als durch dieses. Für die Wissenschaft erwuchs aus der unfreiwilligen Muße der beiden Brüder eine große und bedeutsame Frucht, der Plan zu dem großen deutschen Wörterbuche, dessen erste Anregung von den Herren S. Hirzel und K. Reimer ausging, in deren Verlage später dieses Werk erschien. Einstweilen wurden nur die Vorbereitungen angeordnet, dagegen wur¬ den während der Zeit des tasseler Aufenthaltes die „lateinischen Gedichte des zehnten und elften Jahrhunderts" (darunter der Waltharius und der Ruvdlieb) mit Schmeller gemeinsam (1838), und das angelsächsische Werk von Andreas und Elene (1840) durch Jacob allein herausgegeben. Im Jahre 1841 wurden beide Brüder als Mitglieder der tgi. preußischen Akademie der Wissenschaften nach Berlin berufen. Den Bemühungen Bettinas und des Präsidenten v. Meusebach wird diese günstige Wendung ihres Ge¬ schickes wohl hauptsächlich verdankt. Aus einer fast gedrückten Lage waren nun beide Brüder plötzlich in die ehrenvollste Stellung erhoben, die einem deutschen Gelehrten gewährt werden kann, sie hatten volle Muße zur Verfolgung ihrer Studien und lebten, aller'Sorgen überhoben, in den angenehmsten Verhältnissen. Seit ihrer Uebersiedelung nach Berlin folgten einander eine lange Reihe vor¬ züglicher akademischer Abhandlungen, auf welche die Akademie allen Grund hat stolz zu sein. Nur selten und auf kurze Zeit ward diese Thätigkeit unterbrochen durch die dringenden Anforderungen, welche die Herausgabe der größern Arbeiten an Jacob stellte. Besonders umfänglich sind die Abhandlungen über die „Ge¬ dichte des Mittelalters auf Kaiser Friedrich Barbarossa" und „über den Ur¬ sprung der Sprache". Minder bedeutend war, wie auch bereits in Göttingen, seine Wirksamkeit an der Universität. Für das Katheder besaß Jacob zu viel Un¬ ruhe des Geistes, zu wenig pädagogische Methode. In dieser Beziehung über¬ traf ihn Lachmann weitaus, und daher die merkwürdige Erscheinung, daß, obwohl Jacob Grimm unbestritten als der Schöpfer der germanistischen Studien angesehen wird, doch unter den gegenwärtigen Trägern dieser Wissenschaft sich kaum ein Einziger befindet, der sich einen persönlichen Schüler Grimms nennen könnte, während weitaus die Mehrzahl aus dankbaren Schülern Landmanns besteht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/304>, abgerufen am 15.01.2025.