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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band.

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reits feststehenden, davon unabhängigen Entschlüssen entsprechend zusammen¬
gesucht.

Jene Unterhandlungen der Hauptmächte unter sich, außerhalb der formellen
Thätigkeit des Kongresses, von denen die Entscheidung der europäischen Fragen
eigentlich abhing, führten inzwischen immer weiter auseinander, wenn auch
nicht so weit, als Talleyrand wünschen mußte.

Castlereagh hatte die russische Widerlegung seiner Denkschrift über Polen
am 5. November beantwortet. Er sagt in seiner neuen Note, vertragsmäßige
Verpflichtungen konnten durch spätere nicht vvrhcrgesehenc Erfolge nicht auf¬
gehoben werden, und so gaben die neuesten Erwerbungen Oestreichs und Preu¬
ßens dem Kaiser Alexander kein Recht, die Verträge von Kalisch und Reichen-
bach als nicht mehr giltig zu betrachten und allein ohne die Zustimmung jener
Mächte über das polnische Gebiet zu verfügen. Letztere müßten in ihrem eig¬
nen wie in Europas Interesse eine genügende militärische Grenze im Osten ha¬
ben. Der persönliche Charakter des Kaisers gewähre keine Bürgschaft für
dauernde Verhältnisse, am wenigsten, wenn die Lehre aufgestellt werde, daß selbst
ein so feierlicher Vertrag, wie der von 1797, das Versprechen, Polen niemals
wiederherzustellen, durch den nächsten Krieg aufgehoben wäre. Schließlich be¬
mühte sich Lord Castlereagh nachzuweisen, daß die geringen Abtretungen, welche
Alexander den Oestreichern anbiete, nicht genügten, seine zu Reichenbach ein-
gegangnen Verpflichtungen zu erfüllen, wobei die Note, indem sie behauptete,
der Ertrag der Salzwerke von Wieliczka sei in der russischen Denkschrift viel zu
hoch angegeben, einen Wink fallen ließ, nach welchem Alexander die Berech-
nungen und Rathschläge des Verfassers jener Denkschrift (Czartorysri) mit
mehr Vorsicht aufnehmen sollte.

Noch entschiedener als durch diese englische Note fühlte Alexander sich be¬
leidigt durch das von Metternich am 7. November an Hardenberg gerichtete
Schreiben, welches in aller Form läugnete, daß Oestreich der russischen Regie¬
rung hinsichtlich Polens die Anerbietungen gemacht habe, auf die sich Alexander
jetzt beriefe. In Betreff des sonstigen Inhalts dieser Note sollte Metter¬
nich bald sich selbst widersprechen. Castlereagh nämlich äußerte jetzt, Preußen
müsse nun die Vermittelung übernehmen, da Alexander gegen ihn zu sehr er¬
bittert sei. zugleich aber ließ er geschehen, was Preußen zu festerem Anschluß
an Rußland führen mußte. In einer Unterredung, die er und Hardenberg am
11. November mit dem östreichischen Staatskanzler hatte, fragte er letzten,,
was er für Absichten in Bezug auf Mainz habe. Metternich antwortete:
Mainz sei den Bayern versprochen, und ohne sich bitterem Tadel auszusetzen,
könne er weder die polnische noch die sächsische Sache aufgeben -- er, der
früher beide aufgegeben hatte und zwar gleichzeitig jede der beiden für die an¬
dere! Jetzt meinte er, daß dem König von Sachsen wenigstens eine halbe Mil-


reits feststehenden, davon unabhängigen Entschlüssen entsprechend zusammen¬
gesucht.

Jene Unterhandlungen der Hauptmächte unter sich, außerhalb der formellen
Thätigkeit des Kongresses, von denen die Entscheidung der europäischen Fragen
eigentlich abhing, führten inzwischen immer weiter auseinander, wenn auch
nicht so weit, als Talleyrand wünschen mußte.

Castlereagh hatte die russische Widerlegung seiner Denkschrift über Polen
am 5. November beantwortet. Er sagt in seiner neuen Note, vertragsmäßige
Verpflichtungen konnten durch spätere nicht vvrhcrgesehenc Erfolge nicht auf¬
gehoben werden, und so gaben die neuesten Erwerbungen Oestreichs und Preu¬
ßens dem Kaiser Alexander kein Recht, die Verträge von Kalisch und Reichen-
bach als nicht mehr giltig zu betrachten und allein ohne die Zustimmung jener
Mächte über das polnische Gebiet zu verfügen. Letztere müßten in ihrem eig¬
nen wie in Europas Interesse eine genügende militärische Grenze im Osten ha¬
ben. Der persönliche Charakter des Kaisers gewähre keine Bürgschaft für
dauernde Verhältnisse, am wenigsten, wenn die Lehre aufgestellt werde, daß selbst
ein so feierlicher Vertrag, wie der von 1797, das Versprechen, Polen niemals
wiederherzustellen, durch den nächsten Krieg aufgehoben wäre. Schließlich be¬
mühte sich Lord Castlereagh nachzuweisen, daß die geringen Abtretungen, welche
Alexander den Oestreichern anbiete, nicht genügten, seine zu Reichenbach ein-
gegangnen Verpflichtungen zu erfüllen, wobei die Note, indem sie behauptete,
der Ertrag der Salzwerke von Wieliczka sei in der russischen Denkschrift viel zu
hoch angegeben, einen Wink fallen ließ, nach welchem Alexander die Berech-
nungen und Rathschläge des Verfassers jener Denkschrift (Czartorysri) mit
mehr Vorsicht aufnehmen sollte.

Noch entschiedener als durch diese englische Note fühlte Alexander sich be¬
leidigt durch das von Metternich am 7. November an Hardenberg gerichtete
Schreiben, welches in aller Form läugnete, daß Oestreich der russischen Regie¬
rung hinsichtlich Polens die Anerbietungen gemacht habe, auf die sich Alexander
jetzt beriefe. In Betreff des sonstigen Inhalts dieser Note sollte Metter¬
nich bald sich selbst widersprechen. Castlereagh nämlich äußerte jetzt, Preußen
müsse nun die Vermittelung übernehmen, da Alexander gegen ihn zu sehr er¬
bittert sei. zugleich aber ließ er geschehen, was Preußen zu festerem Anschluß
an Rußland führen mußte. In einer Unterredung, die er und Hardenberg am
11. November mit dem östreichischen Staatskanzler hatte, fragte er letzten,,
was er für Absichten in Bezug auf Mainz habe. Metternich antwortete:
Mainz sei den Bayern versprochen, und ohne sich bitterem Tadel auszusetzen,
könne er weder die polnische noch die sächsische Sache aufgeben — er, der
früher beide aufgegeben hatte und zwar gleichzeitig jede der beiden für die an¬
dere! Jetzt meinte er, daß dem König von Sachsen wenigstens eine halbe Mil-


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[0132] reits feststehenden, davon unabhängigen Entschlüssen entsprechend zusammen¬ gesucht. Jene Unterhandlungen der Hauptmächte unter sich, außerhalb der formellen Thätigkeit des Kongresses, von denen die Entscheidung der europäischen Fragen eigentlich abhing, führten inzwischen immer weiter auseinander, wenn auch nicht so weit, als Talleyrand wünschen mußte. Castlereagh hatte die russische Widerlegung seiner Denkschrift über Polen am 5. November beantwortet. Er sagt in seiner neuen Note, vertragsmäßige Verpflichtungen konnten durch spätere nicht vvrhcrgesehenc Erfolge nicht auf¬ gehoben werden, und so gaben die neuesten Erwerbungen Oestreichs und Preu¬ ßens dem Kaiser Alexander kein Recht, die Verträge von Kalisch und Reichen- bach als nicht mehr giltig zu betrachten und allein ohne die Zustimmung jener Mächte über das polnische Gebiet zu verfügen. Letztere müßten in ihrem eig¬ nen wie in Europas Interesse eine genügende militärische Grenze im Osten ha¬ ben. Der persönliche Charakter des Kaisers gewähre keine Bürgschaft für dauernde Verhältnisse, am wenigsten, wenn die Lehre aufgestellt werde, daß selbst ein so feierlicher Vertrag, wie der von 1797, das Versprechen, Polen niemals wiederherzustellen, durch den nächsten Krieg aufgehoben wäre. Schließlich be¬ mühte sich Lord Castlereagh nachzuweisen, daß die geringen Abtretungen, welche Alexander den Oestreichern anbiete, nicht genügten, seine zu Reichenbach ein- gegangnen Verpflichtungen zu erfüllen, wobei die Note, indem sie behauptete, der Ertrag der Salzwerke von Wieliczka sei in der russischen Denkschrift viel zu hoch angegeben, einen Wink fallen ließ, nach welchem Alexander die Berech- nungen und Rathschläge des Verfassers jener Denkschrift (Czartorysri) mit mehr Vorsicht aufnehmen sollte. Noch entschiedener als durch diese englische Note fühlte Alexander sich be¬ leidigt durch das von Metternich am 7. November an Hardenberg gerichtete Schreiben, welches in aller Form läugnete, daß Oestreich der russischen Regie¬ rung hinsichtlich Polens die Anerbietungen gemacht habe, auf die sich Alexander jetzt beriefe. In Betreff des sonstigen Inhalts dieser Note sollte Metter¬ nich bald sich selbst widersprechen. Castlereagh nämlich äußerte jetzt, Preußen müsse nun die Vermittelung übernehmen, da Alexander gegen ihn zu sehr er¬ bittert sei. zugleich aber ließ er geschehen, was Preußen zu festerem Anschluß an Rußland führen mußte. In einer Unterredung, die er und Hardenberg am 11. November mit dem östreichischen Staatskanzler hatte, fragte er letzten,, was er für Absichten in Bezug auf Mainz habe. Metternich antwortete: Mainz sei den Bayern versprochen, und ohne sich bitterem Tadel auszusetzen, könne er weder die polnische noch die sächsische Sache aufgeben — er, der früher beide aufgegeben hatte und zwar gleichzeitig jede der beiden für die an¬ dere! Jetzt meinte er, daß dem König von Sachsen wenigstens eine halbe Mil-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115927/132>, abgerufen am 15.01.2025.