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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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jüngeren Dichter zu verderben, da sie nicht blos das Unsterbliche seiner Werke,
sondern auch die endlichen Schwächen seines Lebens sich zum Vorbilde nahmen.
Die wohlwollende Gemüthlichkeit wird begütigend sagen: warum die Sünden
des Menschen nicht endlich der Vergessenheit übergeben, da die goldene Laune
des Dichters uns noch heute erfreut? Die Geschichte darf solche Schonung
nicht üben. Alles, was eine Macht gewesen unter den Menschen, verfällt ihrem
Spruche. Gern schweigt sie also von den menschlichen Mängeln jener Män¬
ner . welche die Welt nur als Dichter und Denker kannte. Wenn aber die
Person eines großen Dichters ein verführerisches Vorbild geworden ist für ein
ganzes Geschlecht, carm soll der Historiker der traurigen Pflicht sich nicht ent¬
ziehen, auch über Verhältnisse des häuslichen Lebens zu reden, die er sonst
willig der Spürkraft der literarischen Topfgräber überläßt.


H. v. Treitschke.


Die Diaspora der Juden.

Die Zerstreuung der Juden datirt nicht erst von dem Fall Jerusalems
unter Titus und noch weniger erst von der Unterwerfung des letzten Auf¬
standes in Palästina unter Hadrian. Lange Zeit vor Flavius Josephus und
vor Bar Kochba und Rabbi Allda schon wohnte, wenn auch nicht der größere,
doch um sehr großer Theil des Volkes in zahlreichen Kolonien außerhalb des
gelobten Landes, und die heutige Diaspora unterscheidet sich von der damaligen
nur dadurch, daß sie nur Diaspora ist, daß sie alle Juden umfaßt. Und
ferner: die Ursache dieser Verbreitung des Volkes über die alte Welt lag keines¬
wegs blos in den gewaltsamen Wegführungen durch Salmanassar, der die Mehr¬
zahl der Bewohner des Zehnstämmereichs auf Nimmerwiederkehr nach dem fer¬
nen Osten deportirte, durch Nebukadnezar und durch die macedonischen Könige,
welche wiederholt Schaaren von Juden als Krieger oder Gefangene nach ent¬
legenen Provinzen versetzten. Auch durch die Lust am Gewinn getrieben siedel¬
ten sich zahlreiche Angehörige des Volkes Gottes lange vor dem Untergang
ihres Staates außerhalb desselben an.

Unablässig zogen freiwillige Auswanderer nach den verschiedensten Strichen
der Gebiete am Mittelmeer, während die von der zweiten Wegführung in Baby-


jüngeren Dichter zu verderben, da sie nicht blos das Unsterbliche seiner Werke,
sondern auch die endlichen Schwächen seines Lebens sich zum Vorbilde nahmen.
Die wohlwollende Gemüthlichkeit wird begütigend sagen: warum die Sünden
des Menschen nicht endlich der Vergessenheit übergeben, da die goldene Laune
des Dichters uns noch heute erfreut? Die Geschichte darf solche Schonung
nicht üben. Alles, was eine Macht gewesen unter den Menschen, verfällt ihrem
Spruche. Gern schweigt sie also von den menschlichen Mängeln jener Män¬
ner . welche die Welt nur als Dichter und Denker kannte. Wenn aber die
Person eines großen Dichters ein verführerisches Vorbild geworden ist für ein
ganzes Geschlecht, carm soll der Historiker der traurigen Pflicht sich nicht ent¬
ziehen, auch über Verhältnisse des häuslichen Lebens zu reden, die er sonst
willig der Spürkraft der literarischen Topfgräber überläßt.


H. v. Treitschke.


Die Diaspora der Juden.

Die Zerstreuung der Juden datirt nicht erst von dem Fall Jerusalems
unter Titus und noch weniger erst von der Unterwerfung des letzten Auf¬
standes in Palästina unter Hadrian. Lange Zeit vor Flavius Josephus und
vor Bar Kochba und Rabbi Allda schon wohnte, wenn auch nicht der größere,
doch um sehr großer Theil des Volkes in zahlreichen Kolonien außerhalb des
gelobten Landes, und die heutige Diaspora unterscheidet sich von der damaligen
nur dadurch, daß sie nur Diaspora ist, daß sie alle Juden umfaßt. Und
ferner: die Ursache dieser Verbreitung des Volkes über die alte Welt lag keines¬
wegs blos in den gewaltsamen Wegführungen durch Salmanassar, der die Mehr¬
zahl der Bewohner des Zehnstämmereichs auf Nimmerwiederkehr nach dem fer¬
nen Osten deportirte, durch Nebukadnezar und durch die macedonischen Könige,
welche wiederholt Schaaren von Juden als Krieger oder Gefangene nach ent¬
legenen Provinzen versetzten. Auch durch die Lust am Gewinn getrieben siedel¬
ten sich zahlreiche Angehörige des Volkes Gottes lange vor dem Untergang
ihres Staates außerhalb desselben an.

Unablässig zogen freiwillige Auswanderer nach den verschiedensten Strichen
der Gebiete am Mittelmeer, während die von der zweiten Wegführung in Baby-


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[0069] jüngeren Dichter zu verderben, da sie nicht blos das Unsterbliche seiner Werke, sondern auch die endlichen Schwächen seines Lebens sich zum Vorbilde nahmen. Die wohlwollende Gemüthlichkeit wird begütigend sagen: warum die Sünden des Menschen nicht endlich der Vergessenheit übergeben, da die goldene Laune des Dichters uns noch heute erfreut? Die Geschichte darf solche Schonung nicht üben. Alles, was eine Macht gewesen unter den Menschen, verfällt ihrem Spruche. Gern schweigt sie also von den menschlichen Mängeln jener Män¬ ner . welche die Welt nur als Dichter und Denker kannte. Wenn aber die Person eines großen Dichters ein verführerisches Vorbild geworden ist für ein ganzes Geschlecht, carm soll der Historiker der traurigen Pflicht sich nicht ent¬ ziehen, auch über Verhältnisse des häuslichen Lebens zu reden, die er sonst willig der Spürkraft der literarischen Topfgräber überläßt. H. v. Treitschke. Die Diaspora der Juden. Die Zerstreuung der Juden datirt nicht erst von dem Fall Jerusalems unter Titus und noch weniger erst von der Unterwerfung des letzten Auf¬ standes in Palästina unter Hadrian. Lange Zeit vor Flavius Josephus und vor Bar Kochba und Rabbi Allda schon wohnte, wenn auch nicht der größere, doch um sehr großer Theil des Volkes in zahlreichen Kolonien außerhalb des gelobten Landes, und die heutige Diaspora unterscheidet sich von der damaligen nur dadurch, daß sie nur Diaspora ist, daß sie alle Juden umfaßt. Und ferner: die Ursache dieser Verbreitung des Volkes über die alte Welt lag keines¬ wegs blos in den gewaltsamen Wegführungen durch Salmanassar, der die Mehr¬ zahl der Bewohner des Zehnstämmereichs auf Nimmerwiederkehr nach dem fer¬ nen Osten deportirte, durch Nebukadnezar und durch die macedonischen Könige, welche wiederholt Schaaren von Juden als Krieger oder Gefangene nach ent¬ legenen Provinzen versetzten. Auch durch die Lust am Gewinn getrieben siedel¬ ten sich zahlreiche Angehörige des Volkes Gottes lange vor dem Untergang ihres Staates außerhalb desselben an. Unablässig zogen freiwillige Auswanderer nach den verschiedensten Strichen der Gebiete am Mittelmeer, während die von der zweiten Wegführung in Baby-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/69>, abgerufen am 22.12.2024.