Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

kerr aber (vom Johannesevangelium sehen wir natürlich ganz ab) haben einen
praktischen Zweck, keinen historischen. Sie fassen die betreffenden Sekten nach
ihren Auswüchsen, nicht nach ihren ursprünglichen Zielen ins Auge. Spätere
Schriftsteller gaben dem Bilde, welches sich aus den von Marcus, Matthäus
und Lucas über die Pharisäer und Sadducäer mitgetheilten Notizen für den
diesen letzteren Fernstehenden zusammensetzte, noch grellere Färbung, und so
wurde es zuletzt fast zur Carricatur, ja theilweise, wie wir sogleich sehen wer¬
den, zum geraden Gegentheil dessen, was das Original gewesen.

Die landläufige Vorstellung von den Pharisäern ist, daß sie vornehme hoch¬
mütige Pfaffen, aufgeblasen von Selbstgerechtigkeit, bis zur Abgeschmacktheit
conservativ, scheinheilige Selbstlinge, dabei pedantische Klügler und Spintisirer,
oder, um einen evangelischen Ausdruck zu brauchen, kleinliche Mückenseiher wa¬
ren. Die Sadducäer waren ihre Gegner, folglich -- so schließt der Schncll-
denker -- das Gegentheil von ihnen, destructive Aufklärer, blastrte Libertiner,
Rationalisten und Kosmopoliten.

Und nicht viel anders erscheinen beide Sekten in den bisherigen Geschichts-
werken, jüdischen wie christlichen. Grätz, als eifriger Jude sonst nichts weni¬
ger als geneigt, auf andrer Seite als auf christlicher Unschönes und Jrrthüm-
liches zu entdecken, sieht in der Richtung der Sadducäer nur "schalen Rationa¬
lismus". Herzfeld ist ähnlicher Meinung. Bei Ewald ist die "Theilung"*)
der Sadducäer, vor den makkabäischen Kriegen entstanden, "die Schule der
neuen Zcitweisheit", "die Schule der Freiheit des Lebens, Denkens und Stre-
bens, aber einer solchen Freiheit, wie sie aus dieser sittlich so tief finkenden
griechischen Zeit entsprang und ihr wiederum entsprach und wohlgefiel", "der
Versuch, in Lehre und Grundsatz die damalige griechische Weisheit und grie¬
chische Freiheit mit dem judäischen Wesen zu verschmelzen, nicht sowohl, um
dieses zu zerstören, als um es zu heben und zu fördern." "Freiheit, wenn
auch die verkehrteste und verderblichste, war und blieb die Losung der griechischen
Zeit mit ihren tausendfachen höhern Reizen und Genüssen. Wer sich an ihrem
ungestümen Jagen nach reizenden Lebensfreuden am unbedenklichsten betheiligte,
sich in ihr, wenn auch rein in der selbstsüchtigsten und genußgierigsten Absicht
am freiesten bewegte und am ungehemmtesten und kühnsten ihre Vortheile au¬
genblicklich zu erHaschen klug genug war, der schien der Glücklichste." Die Sa¬
mariter, welche von vornherein größerer Freiheit gehuldigt, befanden sich wohl
dabei. "Warum sollte also das Weisheitsbestrebeu, da es Alles versucht, damals
(vor der Makkabäerzeit) nicht auch die Berechtigung zu einer größern Freiheit
des jüdischen Denkens und Lebens zu begründen versucht haben", als die Schule
Esras gestatten wollte?



') Heißt bei Ewald Sekte, wie das geschmackvolle "Hcilighcn'schaft" Hierarchie be¬
deuten soll.

kerr aber (vom Johannesevangelium sehen wir natürlich ganz ab) haben einen
praktischen Zweck, keinen historischen. Sie fassen die betreffenden Sekten nach
ihren Auswüchsen, nicht nach ihren ursprünglichen Zielen ins Auge. Spätere
Schriftsteller gaben dem Bilde, welches sich aus den von Marcus, Matthäus
und Lucas über die Pharisäer und Sadducäer mitgetheilten Notizen für den
diesen letzteren Fernstehenden zusammensetzte, noch grellere Färbung, und so
wurde es zuletzt fast zur Carricatur, ja theilweise, wie wir sogleich sehen wer¬
den, zum geraden Gegentheil dessen, was das Original gewesen.

Die landläufige Vorstellung von den Pharisäern ist, daß sie vornehme hoch¬
mütige Pfaffen, aufgeblasen von Selbstgerechtigkeit, bis zur Abgeschmacktheit
conservativ, scheinheilige Selbstlinge, dabei pedantische Klügler und Spintisirer,
oder, um einen evangelischen Ausdruck zu brauchen, kleinliche Mückenseiher wa¬
ren. Die Sadducäer waren ihre Gegner, folglich — so schließt der Schncll-
denker — das Gegentheil von ihnen, destructive Aufklärer, blastrte Libertiner,
Rationalisten und Kosmopoliten.

Und nicht viel anders erscheinen beide Sekten in den bisherigen Geschichts-
werken, jüdischen wie christlichen. Grätz, als eifriger Jude sonst nichts weni¬
ger als geneigt, auf andrer Seite als auf christlicher Unschönes und Jrrthüm-
liches zu entdecken, sieht in der Richtung der Sadducäer nur „schalen Rationa¬
lismus". Herzfeld ist ähnlicher Meinung. Bei Ewald ist die „Theilung"*)
der Sadducäer, vor den makkabäischen Kriegen entstanden, „die Schule der
neuen Zcitweisheit", „die Schule der Freiheit des Lebens, Denkens und Stre-
bens, aber einer solchen Freiheit, wie sie aus dieser sittlich so tief finkenden
griechischen Zeit entsprang und ihr wiederum entsprach und wohlgefiel", „der
Versuch, in Lehre und Grundsatz die damalige griechische Weisheit und grie¬
chische Freiheit mit dem judäischen Wesen zu verschmelzen, nicht sowohl, um
dieses zu zerstören, als um es zu heben und zu fördern." „Freiheit, wenn
auch die verkehrteste und verderblichste, war und blieb die Losung der griechischen
Zeit mit ihren tausendfachen höhern Reizen und Genüssen. Wer sich an ihrem
ungestümen Jagen nach reizenden Lebensfreuden am unbedenklichsten betheiligte,
sich in ihr, wenn auch rein in der selbstsüchtigsten und genußgierigsten Absicht
am freiesten bewegte und am ungehemmtesten und kühnsten ihre Vortheile au¬
genblicklich zu erHaschen klug genug war, der schien der Glücklichste." Die Sa¬
mariter, welche von vornherein größerer Freiheit gehuldigt, befanden sich wohl
dabei. „Warum sollte also das Weisheitsbestrebeu, da es Alles versucht, damals
(vor der Makkabäerzeit) nicht auch die Berechtigung zu einer größern Freiheit
des jüdischen Denkens und Lebens zu begründen versucht haben", als die Schule
Esras gestatten wollte?



') Heißt bei Ewald Sekte, wie das geschmackvolle „Hcilighcn'schaft" Hierarchie be¬
deuten soll.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0414" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/115806"/>
          <p xml:id="ID_1187" prev="#ID_1186"> kerr aber (vom Johannesevangelium sehen wir natürlich ganz ab) haben einen<lb/>
praktischen Zweck, keinen historischen. Sie fassen die betreffenden Sekten nach<lb/>
ihren Auswüchsen, nicht nach ihren ursprünglichen Zielen ins Auge. Spätere<lb/>
Schriftsteller gaben dem Bilde, welches sich aus den von Marcus, Matthäus<lb/>
und Lucas über die Pharisäer und Sadducäer mitgetheilten Notizen für den<lb/>
diesen letzteren Fernstehenden zusammensetzte, noch grellere Färbung, und so<lb/>
wurde es zuletzt fast zur Carricatur, ja theilweise, wie wir sogleich sehen wer¬<lb/>
den, zum geraden Gegentheil dessen, was das Original gewesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1188"> Die landläufige Vorstellung von den Pharisäern ist, daß sie vornehme hoch¬<lb/>
mütige Pfaffen, aufgeblasen von Selbstgerechtigkeit, bis zur Abgeschmacktheit<lb/>
conservativ, scheinheilige Selbstlinge, dabei pedantische Klügler und Spintisirer,<lb/>
oder, um einen evangelischen Ausdruck zu brauchen, kleinliche Mückenseiher wa¬<lb/>
ren. Die Sadducäer waren ihre Gegner, folglich &#x2014; so schließt der Schncll-<lb/>
denker &#x2014; das Gegentheil von ihnen, destructive Aufklärer, blastrte Libertiner,<lb/>
Rationalisten und Kosmopoliten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1189"> Und nicht viel anders erscheinen beide Sekten in den bisherigen Geschichts-<lb/>
werken, jüdischen wie christlichen. Grätz, als eifriger Jude sonst nichts weni¬<lb/>
ger als geneigt, auf andrer Seite als auf christlicher Unschönes und Jrrthüm-<lb/>
liches zu entdecken, sieht in der Richtung der Sadducäer nur &#x201E;schalen Rationa¬<lb/>
lismus". Herzfeld ist ähnlicher Meinung. Bei Ewald ist die &#x201E;Theilung"*)<lb/>
der Sadducäer, vor den makkabäischen Kriegen entstanden, &#x201E;die Schule der<lb/>
neuen Zcitweisheit", &#x201E;die Schule der Freiheit des Lebens, Denkens und Stre-<lb/>
bens, aber einer solchen Freiheit, wie sie aus dieser sittlich so tief finkenden<lb/>
griechischen Zeit entsprang und ihr wiederum entsprach und wohlgefiel", &#x201E;der<lb/>
Versuch, in Lehre und Grundsatz die damalige griechische Weisheit und grie¬<lb/>
chische Freiheit mit dem judäischen Wesen zu verschmelzen, nicht sowohl, um<lb/>
dieses zu zerstören, als um es zu heben und zu fördern." &#x201E;Freiheit, wenn<lb/>
auch die verkehrteste und verderblichste, war und blieb die Losung der griechischen<lb/>
Zeit mit ihren tausendfachen höhern Reizen und Genüssen. Wer sich an ihrem<lb/>
ungestümen Jagen nach reizenden Lebensfreuden am unbedenklichsten betheiligte,<lb/>
sich in ihr, wenn auch rein in der selbstsüchtigsten und genußgierigsten Absicht<lb/>
am freiesten bewegte und am ungehemmtesten und kühnsten ihre Vortheile au¬<lb/>
genblicklich zu erHaschen klug genug war, der schien der Glücklichste." Die Sa¬<lb/>
mariter, welche von vornherein größerer Freiheit gehuldigt, befanden sich wohl<lb/>
dabei. &#x201E;Warum sollte also das Weisheitsbestrebeu, da es Alles versucht, damals<lb/>
(vor der Makkabäerzeit) nicht auch die Berechtigung zu einer größern Freiheit<lb/>
des jüdischen Denkens und Lebens zu begründen versucht haben", als die Schule<lb/>
Esras gestatten wollte?</p><lb/>
          <note xml:id="FID_18" place="foot"> ') Heißt bei Ewald Sekte, wie das geschmackvolle &#x201E;Hcilighcn'schaft" Hierarchie be¬<lb/>
deuten soll.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0414] kerr aber (vom Johannesevangelium sehen wir natürlich ganz ab) haben einen praktischen Zweck, keinen historischen. Sie fassen die betreffenden Sekten nach ihren Auswüchsen, nicht nach ihren ursprünglichen Zielen ins Auge. Spätere Schriftsteller gaben dem Bilde, welches sich aus den von Marcus, Matthäus und Lucas über die Pharisäer und Sadducäer mitgetheilten Notizen für den diesen letzteren Fernstehenden zusammensetzte, noch grellere Färbung, und so wurde es zuletzt fast zur Carricatur, ja theilweise, wie wir sogleich sehen wer¬ den, zum geraden Gegentheil dessen, was das Original gewesen. Die landläufige Vorstellung von den Pharisäern ist, daß sie vornehme hoch¬ mütige Pfaffen, aufgeblasen von Selbstgerechtigkeit, bis zur Abgeschmacktheit conservativ, scheinheilige Selbstlinge, dabei pedantische Klügler und Spintisirer, oder, um einen evangelischen Ausdruck zu brauchen, kleinliche Mückenseiher wa¬ ren. Die Sadducäer waren ihre Gegner, folglich — so schließt der Schncll- denker — das Gegentheil von ihnen, destructive Aufklärer, blastrte Libertiner, Rationalisten und Kosmopoliten. Und nicht viel anders erscheinen beide Sekten in den bisherigen Geschichts- werken, jüdischen wie christlichen. Grätz, als eifriger Jude sonst nichts weni¬ ger als geneigt, auf andrer Seite als auf christlicher Unschönes und Jrrthüm- liches zu entdecken, sieht in der Richtung der Sadducäer nur „schalen Rationa¬ lismus". Herzfeld ist ähnlicher Meinung. Bei Ewald ist die „Theilung"*) der Sadducäer, vor den makkabäischen Kriegen entstanden, „die Schule der neuen Zcitweisheit", „die Schule der Freiheit des Lebens, Denkens und Stre- bens, aber einer solchen Freiheit, wie sie aus dieser sittlich so tief finkenden griechischen Zeit entsprang und ihr wiederum entsprach und wohlgefiel", „der Versuch, in Lehre und Grundsatz die damalige griechische Weisheit und grie¬ chische Freiheit mit dem judäischen Wesen zu verschmelzen, nicht sowohl, um dieses zu zerstören, als um es zu heben und zu fördern." „Freiheit, wenn auch die verkehrteste und verderblichste, war und blieb die Losung der griechischen Zeit mit ihren tausendfachen höhern Reizen und Genüssen. Wer sich an ihrem ungestümen Jagen nach reizenden Lebensfreuden am unbedenklichsten betheiligte, sich in ihr, wenn auch rein in der selbstsüchtigsten und genußgierigsten Absicht am freiesten bewegte und am ungehemmtesten und kühnsten ihre Vortheile au¬ genblicklich zu erHaschen klug genug war, der schien der Glücklichste." Die Sa¬ mariter, welche von vornherein größerer Freiheit gehuldigt, befanden sich wohl dabei. „Warum sollte also das Weisheitsbestrebeu, da es Alles versucht, damals (vor der Makkabäerzeit) nicht auch die Berechtigung zu einer größern Freiheit des jüdischen Denkens und Lebens zu begründen versucht haben", als die Schule Esras gestatten wollte? ') Heißt bei Ewald Sekte, wie das geschmackvolle „Hcilighcn'schaft" Hierarchie be¬ deuten soll.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/414
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/414>, abgerufen am 28.07.2024.